24.04.12002, 08:14
Das Orwell-Argument greift nicht mehr
Mit wenigen Kameras hat es angefangen, mittlerweile werden ganze Innenstädte in Deutschland per Video überwacht. Aber Proteste gegen die totale Überwachung gibt es kaum noch. Jedermann wird zum Statisten im ewigen Polizeifilm, und die Bevölkerung hat sich damit abgefunden.
Berlin - Chr*stoph Saeftel wollte einen Präzedenzfall schaffen - vergeblich. Mit Verve und Zuversicht zog der grüne Bezirksbeirat in Mannheim gegen die Videoüberwachung der Innenstadt vor Gericht. Die per Kamera kontrollierten Plätze seien "Orte der Kommunikation", ihre Überwachung folglich ein Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, empörte sich Saeftel.
Doch das Karlsruher Verwaltungsgericht wies seine Klage ab. Die Beobachtung per Kamera erfolge ausschließlich zur Gefahrenabwehr und sei deshalb rechtmäßig, erklärten die Richter Ende vergangenen Jahres. Polizeioberrat Thomas Köber, Leiter des Einsatzstabes in Mannheim, beteuert zudem: "Wir haben ein sicheres System entwickelt, der Datenschutzbeauftragte hat daran mitgearbeitet." Also beobachtet die Polizei weiterhin mit ihren elektronischen Augen die gesamte Fußgängerzone und kann jeder Person unbemerkt auf Schritt und Tritt durch die Innenstadt folgen.
Und das nicht nur in Mannheim. Die Kameras sind überall, Polizei und private Wachdienste filmen bundesweit, was immer sie in ihren digitalen Speichern und Bändern unterbringen können. In fast allen Bundesländern wurden die Polizei- und Datenschutzgesetze schon geändert, und der neue Passus klingt stets gleich: Zur Gefahrenabwehr und Prävention ist sowohl polizeiliche als auch private Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Räume in Deutschland erlaubt.
Folglich sind große Teile des Landes von elektronischen Augen übersät. Über 500.000 öffentliche und private Objektive sollen rund um die Uhr den deutschen Alltag filmen, sagen Kritiker. Die Zahl ist nicht sicher, denn es gibt keine Meldepflicht für private Überwachungsanlagen. Doch in beinahe allen öffentlichen Bereichen kommen die Kameras zum Einsatz. Im Parkhaus, im Supermarkt, im Bahnhof, am Bankautomaten sowieso, Kameras hängen überall, und die Bürger haben jede Kontrolle darüber verloren, wer sie gerade beim Nasepopeln beobachtet.
In Baden-Württemberg entwickelte sich die Kamerakontrolle sogar zum Vorzeigeprojekt für Innere Sicherheit. Innenminister Thomas Schäuble verkündete stolz, sein Bundesland sei das sicherste, auch weil die eingesetzte Videoüberwachung Erfolge zeige. Deswegen soll ab Juli 2002 neben Stuttgart und Mannheim auch die Heilbronner Innenstadt überwacht werden.
Die allgegenwärtigen Augen erinnern so manchen an alte Zeiten im deutschen Osten, als es am Leipziger Bahnhof oder am Berliner Alexanderplatz die Besucher aus dem Westen vor den vielen Kameras gruselte. Allerdings saßen damals die Schergen eines wirklichen Überwachungsstaates vor den Monitoren, heute beobachten Polizisten im Auftrag von Regierungen und Parlamenten, die auch abwählbar sind. Folglich fürchten nur wenige die Kontrolle per Kamera, weil offenkundiger Missbrauch für politische oder private Zwecke bislang nicht bekannt wurde.
Gleichwohl sehen Kameragegner die ständige Beobachtung als Bedrohung an, weil sie konformes, künstliches Verhalten erzeuge und den Menschen das Recht auf Anonymität nehme. Es entstünden "Selbstkontrolle und Anpassung", warnten Demonstranten gegen das Heilbronner Überwachungsprojekt.
Befürworter halten dagegen, dass die Videoüberwachung ein gutes Mittel sei, um Kriminalitätsbrennpunkte zu entschärfen. Durch die Kameras würden potenzielle Verbrecher abgeschreckt, außerdem könnten Straftaten schneller aufgeklärt werden, lauten die gängigen Begründungen. In den Innenministerien liegen Aufklärungsstatistiken griffbereit, mit denen die Erfolge der Kamerakontrolle sofort mit Zahlen belegt werden können. So verweist etwa Heiko Homburg, Sprecher des brandenburgischen Innenministeriums, auf das lange Zeit von Schlägern und Nazis drangsalierte Städtchen Erkner, wo heute am Bahnhof ein großer Parkplatz überwacht wird. Vom November 2001 bis zum März 2002 gab es dort neun Straftaten, im Vergleichszeitraum im Vorjahr waren es ohne Kameras noch 86 Delikte. "Die Kameras haben eine extrem präventive Wirkung", meint Homburg.
Gerne verweisen die Überwacher auch auf das britische Modell. Auf der Insel sind mittlerweile über zwei Millionen Kameras installiert. Alle Innenstädte werden von der Polizei überwacht, und die Kriminalitätsrate ist in den überwachten Zonen auch gesunken. Doch am englischen Beispiel wird auch das Problem der Videoüberwachung deutlich. Die allgemeine Kriminalitätsrate veränderte sich nämlich nicht, die Verbrechen wurden nur aus den überwachten Gebieten verdrängt.
Die Kameras bekämpfen also nicht die Kriminalität, sondern sind nur Mittel zur Schaffung besonders sicherer Zonen. Sie sorgen für mehr Sicherheitsempfinden bei den Bürgern und sind logischerweise beliebte Werkzeuge der Politiker, die so das gestiegene Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung befriedigen. Spätestens seit dem 11. September ist die Zahl der Befürworter der Videoüberwachung auch hier zu Lande deutlich gestiegen, Sicherheitsdenken geht in Deutschland mittlerweile vor Freiheitsdenken.
Folglich sind die Gegner der Videoüberwachung auf dem Rückzug. Wo vor einigen Jahren noch das Horrorszenario aus George Orwells Zukunftsroman "1984" als ernst zu nehmende Warnung galt, macht sich heute Ernüchterung breit. Das Orwell-Argument greift nicht mehr: "Das ist kein Überwachungsstaat, sondern eine ganze Überwachungsgesellschaft", kapituliert Lukas Herschel vor den übermächtigen Gegnern. Herschel ist Mitglied der Leipziger Arbeitsgemeinschaft "Öffentliche Räume". Seine Stadt ist das Symbol für den Konflikt: 1997 startete hier der deutschlandweit erste Modellversuch zur Videoüberwachung, wenig später wurde Leipzig zu einem Zentrum der Kameragegner.
Vor zwei Jahren setzten die Kritiker durch, dass eine Kamera im links-alternativen Viertel Connewitz wieder verschwand. Eine ganze Demonstrationswoche ließ die Ordnungsbehörde einknicken und das öffentliche Auge wieder abbauen. Doch danach war Ruhe in Leipzig, und die Polizei filmte munter weiter. Am Hauptbahnhof sowieso, vor kurzem wurde auch am Roßplatz eine neue Anlage installiert. "Es gibt einfach zu viele Kameras", erklärt Herschel das Dilemma. Seine Arbeitsgemeinschaft kämpfe zwar noch immer, aber der Protest sei "eingeschlafen".
Mittlerweile sind die Kameras so winzig, dass deren Betreiber völlig unbemerkt die Passanten beobachten können.
Dabei ist es den ferngesteuerten Augen egal, was sie zu sehen bekommen. Manche liefern romantische Filmchen aus den noblen Villenvierteln der High Society, andere drehen spannende Psychothriller in düsteren Plattenbausiedlungen - die Beobachter hinter den Kameras beschützen und kontrollieren jede Bevölkerungsschicht.
Selbst gegen Kinder wird die Videoüberwachung nun schon eingesetzt. Bei der brandenburgischen Havelbus Verkehrsgesellschaft sind mittlerweile alle Schulbusse mit vier Kameras bestückt. Ein Unglück in Altlandsberg war der Auslöser. Durch Tumulte im Bus war das Fahrzeug von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gekracht. Jetzt sollen die Kids durch die Objektive diszipliniert werden.
Wenn schon die Jüngsten so an die ständige Beobachtung gewöhnt werden, ist es scheinbar nicht mehr weit bis zur "Schönen neuen Welt", die Aldous Huxley in seinem Roman beschrieb. Huxleys Figuren werden schon als Neugeborene an bestimmte Zustände gewöhnt, das zukünftige Verhalten wird genormt, und so entsteht Gleichgültigkeit. Tatsächlich ist es vielen Menschen mittlerweile einerlei, ob sie gefilmt werden.
Die meisten begrüßen es sogar, wie Ulf Treger von der Bremer Web-Initiative "Aktuelle Kamera" erfahren musste. Die Bremer gestalteten eine Website, auf der sie alle Kameras der Innenstadt markiert haben. Anfangs war die Resonanz gut, doch mittlerweile hat die Initiative resigniert. "Wir sind dabei unser Projekt zu beenden", berichtet Treger ernüchtert.
Dass sich die Bürger längst mit der dauerhaften Überwachung abfinden, erkannte Treger spätestens bei einer Bürgerversammlung zur geplanten Videokontrolle eines Bremer Wohngebietes. Die beiden einzigen kritischen Stimmen kamen da nämlich ausgerechnet von zwei Polizisten, die daran erinnerten, dass Videoüberwachung allein nicht gegen Gefahren schütze. "Die Anwohner hingegen waren völlig begeistert davon, dass ihr Wohngebiet mit hochauflösenden Kameras bewacht werden sollte", schüttelt Treger den Kopf. Man könne den Menschen immer nur sagen: "Leute, ihr lebt dadurch nicht sicherer."
Das aber glauben vor allem im Osten Deutschlands viele Bürger. In der Plattenbausiedlung Halle-Neustadt in Sachsen-Anhalt beispielsweise wirbt der Immobilienunternehmer Ulrich Marseille mit den entsprechenden Vorkehrungen in seinen Mietshäusern. Das Wohnen ist zwar etwas teurer, dafür bekommen die Mieter ein nettes Extra frei Haus. Im Eingangsbereich der hässlichen Betonklötze ist eine Überwachungskamera installiert. Sie liefert den Bewohnern rund um die Uhr die besten Bilder aus dem Treppenhaus live auf den Fernseher.
Das Programm auf Speicherplatz 36 ist sehr beliebt, jedoch späht kaum ein Zuschauer nach verdächtigen Eindringlingen. Vielmehr schauen die Hochhausbewohner, was die lieben Nachbarn so machen. So bekommt der Umzug einer Großfamilie am Samstag bessere Einschaltquoten als die Fußball-Bundesliga, und der Abschiedskuss eines jungen Liebespaares im Erdgeschoss sorgt in den Wohnzimmern darüber für rührseliges Taschentuch-Geschniefe.
Den Ostdeutschen scheint diese Big-Brother-Veranstaltung, in der sie mal Zuschauer, mal Schauspieler sind, zu gefallen: Das Ansehen Marseilles sei erstaunlich hoch, melden die Demoskopen.
So ist die fortwährende Ausbreitung der Videoüberwachung wohl nicht mehr abzuwenden. Größter Vorreiter dabei ist die Bundesregierung. An 55 Bundesgebäuden hat sie in Berlin und Bonn insgesamt 1477 Kameras installiert. Eine Anfrage der PDS, warum es keine Hinweisschilder für diese Kameras gebe, obwohl das im neuen Bundesdatenschutzgesetz ausdrücklich gefordert wird, beantwortete das Innenministerium lapidar mit den Worten, "die für jedermann sichtbare Anbringung der Videokameras" mache die Beobachtung ausreichend erkennbar. Tatsächlich sind viele Kameras zehn Meter über den Köpfen der Passanten angebracht, die meisten nehmen das gewiss gar nicht wahr. "Das ist ein schlechter Witz!", empörte sich daher die PDS-Abgeordnete Angela Marquardt über den laschen Umgang der Bundespolizisten mit dem Gesetz.
Andere Kameragegner finden die totale Überwachung dagegen schon fast schon wieder amüsant. In der Szene hat sich ein neuer Kult ausgebreitet, die Kritiker beschäftigen sich jetzt künstlerisch mit ihrem Hassobjekt. In New York, wohl die Stadt mit den meisten Kameras überhaupt, hat das "Institut für angewandte Autonomie" einen virtuellen Stadtplan ins Netz gestellt. Die Nutzer können sich einen Weg durch Manhattan zeigen lassen, auf denen sie von den wenigsten Kameras beobachtet werden. Die Route führt allerdings zu gewaltigen Umwegen, der kamerafreie Kurs verwandelt Spaziergänge in Wanderungen.
Mit wenigen Kameras hat es angefangen, mittlerweile werden ganze Innenstädte in Deutschland per Video überwacht. Aber Proteste gegen die totale Überwachung gibt es kaum noch. Jedermann wird zum Statisten im ewigen Polizeifilm, und die Bevölkerung hat sich damit abgefunden.
Berlin - Chr*stoph Saeftel wollte einen Präzedenzfall schaffen - vergeblich. Mit Verve und Zuversicht zog der grüne Bezirksbeirat in Mannheim gegen die Videoüberwachung der Innenstadt vor Gericht. Die per Kamera kontrollierten Plätze seien "Orte der Kommunikation", ihre Überwachung folglich ein Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, empörte sich Saeftel.
Doch das Karlsruher Verwaltungsgericht wies seine Klage ab. Die Beobachtung per Kamera erfolge ausschließlich zur Gefahrenabwehr und sei deshalb rechtmäßig, erklärten die Richter Ende vergangenen Jahres. Polizeioberrat Thomas Köber, Leiter des Einsatzstabes in Mannheim, beteuert zudem: "Wir haben ein sicheres System entwickelt, der Datenschutzbeauftragte hat daran mitgearbeitet." Also beobachtet die Polizei weiterhin mit ihren elektronischen Augen die gesamte Fußgängerzone und kann jeder Person unbemerkt auf Schritt und Tritt durch die Innenstadt folgen.
Und das nicht nur in Mannheim. Die Kameras sind überall, Polizei und private Wachdienste filmen bundesweit, was immer sie in ihren digitalen Speichern und Bändern unterbringen können. In fast allen Bundesländern wurden die Polizei- und Datenschutzgesetze schon geändert, und der neue Passus klingt stets gleich: Zur Gefahrenabwehr und Prävention ist sowohl polizeiliche als auch private Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Räume in Deutschland erlaubt.
Folglich sind große Teile des Landes von elektronischen Augen übersät. Über 500.000 öffentliche und private Objektive sollen rund um die Uhr den deutschen Alltag filmen, sagen Kritiker. Die Zahl ist nicht sicher, denn es gibt keine Meldepflicht für private Überwachungsanlagen. Doch in beinahe allen öffentlichen Bereichen kommen die Kameras zum Einsatz. Im Parkhaus, im Supermarkt, im Bahnhof, am Bankautomaten sowieso, Kameras hängen überall, und die Bürger haben jede Kontrolle darüber verloren, wer sie gerade beim Nasepopeln beobachtet.
In Baden-Württemberg entwickelte sich die Kamerakontrolle sogar zum Vorzeigeprojekt für Innere Sicherheit. Innenminister Thomas Schäuble verkündete stolz, sein Bundesland sei das sicherste, auch weil die eingesetzte Videoüberwachung Erfolge zeige. Deswegen soll ab Juli 2002 neben Stuttgart und Mannheim auch die Heilbronner Innenstadt überwacht werden.
Die allgegenwärtigen Augen erinnern so manchen an alte Zeiten im deutschen Osten, als es am Leipziger Bahnhof oder am Berliner Alexanderplatz die Besucher aus dem Westen vor den vielen Kameras gruselte. Allerdings saßen damals die Schergen eines wirklichen Überwachungsstaates vor den Monitoren, heute beobachten Polizisten im Auftrag von Regierungen und Parlamenten, die auch abwählbar sind. Folglich fürchten nur wenige die Kontrolle per Kamera, weil offenkundiger Missbrauch für politische oder private Zwecke bislang nicht bekannt wurde.
Gleichwohl sehen Kameragegner die ständige Beobachtung als Bedrohung an, weil sie konformes, künstliches Verhalten erzeuge und den Menschen das Recht auf Anonymität nehme. Es entstünden "Selbstkontrolle und Anpassung", warnten Demonstranten gegen das Heilbronner Überwachungsprojekt.
Befürworter halten dagegen, dass die Videoüberwachung ein gutes Mittel sei, um Kriminalitätsbrennpunkte zu entschärfen. Durch die Kameras würden potenzielle Verbrecher abgeschreckt, außerdem könnten Straftaten schneller aufgeklärt werden, lauten die gängigen Begründungen. In den Innenministerien liegen Aufklärungsstatistiken griffbereit, mit denen die Erfolge der Kamerakontrolle sofort mit Zahlen belegt werden können. So verweist etwa Heiko Homburg, Sprecher des brandenburgischen Innenministeriums, auf das lange Zeit von Schlägern und Nazis drangsalierte Städtchen Erkner, wo heute am Bahnhof ein großer Parkplatz überwacht wird. Vom November 2001 bis zum März 2002 gab es dort neun Straftaten, im Vergleichszeitraum im Vorjahr waren es ohne Kameras noch 86 Delikte. "Die Kameras haben eine extrem präventive Wirkung", meint Homburg.
Gerne verweisen die Überwacher auch auf das britische Modell. Auf der Insel sind mittlerweile über zwei Millionen Kameras installiert. Alle Innenstädte werden von der Polizei überwacht, und die Kriminalitätsrate ist in den überwachten Zonen auch gesunken. Doch am englischen Beispiel wird auch das Problem der Videoüberwachung deutlich. Die allgemeine Kriminalitätsrate veränderte sich nämlich nicht, die Verbrechen wurden nur aus den überwachten Gebieten verdrängt.
Die Kameras bekämpfen also nicht die Kriminalität, sondern sind nur Mittel zur Schaffung besonders sicherer Zonen. Sie sorgen für mehr Sicherheitsempfinden bei den Bürgern und sind logischerweise beliebte Werkzeuge der Politiker, die so das gestiegene Sicherheitsbedürfnis in der Bevölkerung befriedigen. Spätestens seit dem 11. September ist die Zahl der Befürworter der Videoüberwachung auch hier zu Lande deutlich gestiegen, Sicherheitsdenken geht in Deutschland mittlerweile vor Freiheitsdenken.
Folglich sind die Gegner der Videoüberwachung auf dem Rückzug. Wo vor einigen Jahren noch das Horrorszenario aus George Orwells Zukunftsroman "1984" als ernst zu nehmende Warnung galt, macht sich heute Ernüchterung breit. Das Orwell-Argument greift nicht mehr: "Das ist kein Überwachungsstaat, sondern eine ganze Überwachungsgesellschaft", kapituliert Lukas Herschel vor den übermächtigen Gegnern. Herschel ist Mitglied der Leipziger Arbeitsgemeinschaft "Öffentliche Räume". Seine Stadt ist das Symbol für den Konflikt: 1997 startete hier der deutschlandweit erste Modellversuch zur Videoüberwachung, wenig später wurde Leipzig zu einem Zentrum der Kameragegner.
Vor zwei Jahren setzten die Kritiker durch, dass eine Kamera im links-alternativen Viertel Connewitz wieder verschwand. Eine ganze Demonstrationswoche ließ die Ordnungsbehörde einknicken und das öffentliche Auge wieder abbauen. Doch danach war Ruhe in Leipzig, und die Polizei filmte munter weiter. Am Hauptbahnhof sowieso, vor kurzem wurde auch am Roßplatz eine neue Anlage installiert. "Es gibt einfach zu viele Kameras", erklärt Herschel das Dilemma. Seine Arbeitsgemeinschaft kämpfe zwar noch immer, aber der Protest sei "eingeschlafen".
Mittlerweile sind die Kameras so winzig, dass deren Betreiber völlig unbemerkt die Passanten beobachten können.
Dabei ist es den ferngesteuerten Augen egal, was sie zu sehen bekommen. Manche liefern romantische Filmchen aus den noblen Villenvierteln der High Society, andere drehen spannende Psychothriller in düsteren Plattenbausiedlungen - die Beobachter hinter den Kameras beschützen und kontrollieren jede Bevölkerungsschicht.
Selbst gegen Kinder wird die Videoüberwachung nun schon eingesetzt. Bei der brandenburgischen Havelbus Verkehrsgesellschaft sind mittlerweile alle Schulbusse mit vier Kameras bestückt. Ein Unglück in Altlandsberg war der Auslöser. Durch Tumulte im Bus war das Fahrzeug von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gekracht. Jetzt sollen die Kids durch die Objektive diszipliniert werden.
Wenn schon die Jüngsten so an die ständige Beobachtung gewöhnt werden, ist es scheinbar nicht mehr weit bis zur "Schönen neuen Welt", die Aldous Huxley in seinem Roman beschrieb. Huxleys Figuren werden schon als Neugeborene an bestimmte Zustände gewöhnt, das zukünftige Verhalten wird genormt, und so entsteht Gleichgültigkeit. Tatsächlich ist es vielen Menschen mittlerweile einerlei, ob sie gefilmt werden.
Die meisten begrüßen es sogar, wie Ulf Treger von der Bremer Web-Initiative "Aktuelle Kamera" erfahren musste. Die Bremer gestalteten eine Website, auf der sie alle Kameras der Innenstadt markiert haben. Anfangs war die Resonanz gut, doch mittlerweile hat die Initiative resigniert. "Wir sind dabei unser Projekt zu beenden", berichtet Treger ernüchtert.
Dass sich die Bürger längst mit der dauerhaften Überwachung abfinden, erkannte Treger spätestens bei einer Bürgerversammlung zur geplanten Videokontrolle eines Bremer Wohngebietes. Die beiden einzigen kritischen Stimmen kamen da nämlich ausgerechnet von zwei Polizisten, die daran erinnerten, dass Videoüberwachung allein nicht gegen Gefahren schütze. "Die Anwohner hingegen waren völlig begeistert davon, dass ihr Wohngebiet mit hochauflösenden Kameras bewacht werden sollte", schüttelt Treger den Kopf. Man könne den Menschen immer nur sagen: "Leute, ihr lebt dadurch nicht sicherer."
Das aber glauben vor allem im Osten Deutschlands viele Bürger. In der Plattenbausiedlung Halle-Neustadt in Sachsen-Anhalt beispielsweise wirbt der Immobilienunternehmer Ulrich Marseille mit den entsprechenden Vorkehrungen in seinen Mietshäusern. Das Wohnen ist zwar etwas teurer, dafür bekommen die Mieter ein nettes Extra frei Haus. Im Eingangsbereich der hässlichen Betonklötze ist eine Überwachungskamera installiert. Sie liefert den Bewohnern rund um die Uhr die besten Bilder aus dem Treppenhaus live auf den Fernseher.
Das Programm auf Speicherplatz 36 ist sehr beliebt, jedoch späht kaum ein Zuschauer nach verdächtigen Eindringlingen. Vielmehr schauen die Hochhausbewohner, was die lieben Nachbarn so machen. So bekommt der Umzug einer Großfamilie am Samstag bessere Einschaltquoten als die Fußball-Bundesliga, und der Abschiedskuss eines jungen Liebespaares im Erdgeschoss sorgt in den Wohnzimmern darüber für rührseliges Taschentuch-Geschniefe.
Den Ostdeutschen scheint diese Big-Brother-Veranstaltung, in der sie mal Zuschauer, mal Schauspieler sind, zu gefallen: Das Ansehen Marseilles sei erstaunlich hoch, melden die Demoskopen.
So ist die fortwährende Ausbreitung der Videoüberwachung wohl nicht mehr abzuwenden. Größter Vorreiter dabei ist die Bundesregierung. An 55 Bundesgebäuden hat sie in Berlin und Bonn insgesamt 1477 Kameras installiert. Eine Anfrage der PDS, warum es keine Hinweisschilder für diese Kameras gebe, obwohl das im neuen Bundesdatenschutzgesetz ausdrücklich gefordert wird, beantwortete das Innenministerium lapidar mit den Worten, "die für jedermann sichtbare Anbringung der Videokameras" mache die Beobachtung ausreichend erkennbar. Tatsächlich sind viele Kameras zehn Meter über den Köpfen der Passanten angebracht, die meisten nehmen das gewiss gar nicht wahr. "Das ist ein schlechter Witz!", empörte sich daher die PDS-Abgeordnete Angela Marquardt über den laschen Umgang der Bundespolizisten mit dem Gesetz.
Andere Kameragegner finden die totale Überwachung dagegen schon fast schon wieder amüsant. In der Szene hat sich ein neuer Kult ausgebreitet, die Kritiker beschäftigen sich jetzt künstlerisch mit ihrem Hassobjekt. In New York, wohl die Stadt mit den meisten Kameras überhaupt, hat das "Institut für angewandte Autonomie" einen virtuellen Stadtplan ins Netz gestellt. Die Nutzer können sich einen Weg durch Manhattan zeigen lassen, auf denen sie von den wenigsten Kameras beobachtet werden. Die Route führt allerdings zu gewaltigen Umwegen, der kamerafreie Kurs verwandelt Spaziergänge in Wanderungen.