27.07.12009, 22:31
Aristoteles und die Waagschalen Alexanders
Aristoteles hob einen Becher, hielt ihn Philipp hin. Der König kam langsam zum Tisch, blickte sich um, als müsse er sich davon überzeugen, daß nirgendwo jemand auf der Lauer lag; er ließ sich schwer in den Scherensessel fallen.
“Und was willst du nun tun?”
Philipp trank, wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab und rülpste.
“Ich darf nicht anfangen – nicht ganz, jedenfalls. Athen muß den Krieg erklären. Weil Athen immer noch das Herz aller Dinge ist. Wenn ich Athen angreife, stellen sich fast alle Hellenen hinter Demosthenes. Wenn Athen uns den Krieg erklärt, werden viele Hellenen die Notwendigkeit bezweifeln und entweder auf unsere Seite treten oder zumindest nicht Demosthenes helfen. Wir haben es mit Euboia versucht, unsere Freunde dort an die Macht gebracht, kleine Besatzungen in die Städte gelegt. Mehr wäre ein Eroberungskrieg gewesen, den wir gegen hellenische Orte nicht führen dürfen – heute.
Demosthenes hat einen Bund zustandegebracht – nicht für Hellas, nicht gegen Persien, sondern hinter sich und gegen Philipp. Sie haben Eubioa, na ja, befreit; aber sie sind nicht weitergegangen.
Das wäre meine Hoffnung gewesen. Hermias war eine Nebenhoffnung, gewissermaßen, im Vorblick auf Persien. Wie gewisse Fehlschläge in Ägypten.”
Er hob den Becher und schaute Aristoteles über den Rand an.
“Jetzt werden wir sie eben zwingen müssen.”
“Du willst also Byzantion angreifen, wie damals schon geplant?”
“Byzantion, und Perinthos.”
Aristoteles pfiff leise. “Bosporus und Propontis – die ganze Küste! Mit welcher Begründung?”
Philipp grinste breit. “Mit der besten aller Begründungen – zur Verteidigung.
Beide Städte sind mehr oder minder mit Athen verbündet. Von beiden Städten gehen Störungen aus; immer wenn es mir gelungen ist, Thrakien halbwegs zu beruhigen, schüren Athen, Byzantion und Perinthos wieder Unruhen. Es ist schlecht für Makedonien, für Thrakien – sogar Thraker möchten hin und wieder in Frieden ihre Felder bestellen - für Hellas, für den Handel mit den Steppen im Norden. Für alle.”
“Und du meinst, Athen, also das Bündnis des Demosthenes, wird dich angreifen, sobald du Byzantion und Perinthos belagerst?”
Philipp lächelte unendlich sanft und tückisch. “Wenn die Städte fallen, beherrscht Makedonien den ganzen Norden und die Meerengen. Das kann Athen nicht hinnehmen. Und notfalls, wenn Demosthenes sich nicht mit seiner Kriegspolitik durchsetzen kann, werde ich noch ein wenig nachhelfen.”
"Wie, Herr der Makedonen?”
Aristoteles Stimme klang gleichzeitig bewundernd und spöttisch.
“Laß Dich überraschen, Fürst der Philosophen. Parmenion, der mich übrigens bat, dir seine Verehrung und Freundschaft zu Füßen zu legen, ist unterwegs nach Osten, mit den meisten Truppen.“
Philipp kniff die Augen zusammen. “Wir werden ein paar neue Dinger erproben; neue Belagerungsmaschinen und bewegliche Türme, die nicht gleich umfallen, wenn man an ihnen zupft. Polydias – du kennst ihn, glaube ich – hat den Winter über Einzelteile entworfen; sie werden mit Schiffen und Karren dorthin gebracht und zusammengebaut. Parmenion und ich werden zwischen Byzantion, Perinthos, dem großen Fluß im Norden, Istros, und Thrakien für den Fortschritt der Dinge sorgen. Antipatros wird zwischen Illyrien und Thessalien hin und her wandern, in tiefer Nachdenklichkeit; er wird den Thessaliern die Wangen tätscheln, wenn ihnen die Furcht ins Gemüt steigen sollte; er wird dem König der Illyrer die Nase putzen, wenn dieser sie allzu tief in unsere Dinge steckt; er wird Straßen anlegen; von Norden nach Süden, oder vorhandene ausbessern; er wird Vorratslager einrichten – es könnte ja sein, man weiß es nicht, daß Athen uns den Krieg erklärt und wir dann schnell große Truppenverbände nach Süden verlegen müssen.
Und er wird Krieger werben und ausbilden.”
“Deshalb...”
Philipp beugte sich vor, die Unterarme auf der Tischplatte.
“Genau – deshalb. Ich brauche Alexander, und die besten der anderen.
Er ist jung; gewisse Dinge lernt man erst mit der Zeit. Wissen aus Büchern, sein Leben in Pella und Mieza, der Umgang mit Fürstensöhnen und rauhen Kämpfern in Beroia, all dies wird ihn, wenn er gut ist, fähig machen, Pella zu leiten – den Hof, die Verwaltung, den Nachschub. Erfahrene Kämpfer will ich ihm nicht unterstellen, bevor ich ihn nicht selbst im Kampf gesehen habe. Denn dies ist eine Sache, die man nicht aus Büchern lernen kann.”
“Das weiß er – wie die anderen.“ Aristoteles hob den Napf mit der Brühe, die inzwischen ein wenig abgekühlt und trinkbar geworden war. “Sie wissen es, weil ich es ihnen gesagt habe.” Philipp verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte Aristoteles lange an.
“Ich danke Dir”, sagte er dann gedehnt. “Ich hatte gehofft, daß du unter den Philosophen vielleicht als einziger weißt, wo das nützliche Wissen, das man mit Wörten vermitteln kann, enden muß und wo die Tat beginnt. Sag - ist er gut genug?”
Aristoteles blies noch einmal über die Brühe, trank, setzte den Napf ab.
“Alexander ist der beste Schüler, den ich je hatte. Aber...”
“Aber was?”
“Er hat einige seltsame Ideen über Hellenen und Barbaren und ihre Gleichwertigkeit.
Und... er ist zu gut.“
Philipp verzog das Gesicht. “Wie kann jemand zu gut sein?”
Aristoteles schloß die Augen; er sprach halblaut und sehr ernst.
“Inwendig ist der Mensch ein System von Waagen und Schalen. Liebe und Haß. Geiz und Großmut. Tugend und Niedriges. Wenn die Schalen gleichmäßig gefüllt sind, die Waagen ausgewogen, dann kann ein Mensch seinen Platz im Gefüge der Dinge einnehmen und sein Bestes tun. Wenn eine der Schalen zu voll oder nicht voll genug ist, wenn die Waage kippt, wird er vielleicht zu gierig oder geht durch allzu weitherzige Großzügigkeit zugrunde oder ist zu kriegerisch und vergißt, daß auch Gold oder Verträge oder Versprechungen zum Ziel führen können. Wenn die Liebste nicht eingesperrt ist, sollte man die Wand ihres Hauses nicht mit dem Kopf niederrammen, sondern die Tür benutzen.”
Philipp rümpfte die Nase. “Ja. Und weiter?”
“Alexander ist ausgewogen. Soweit man dies von einem jungen Mann sagen kann.
All seine Freunde...
Die Welt wird von ihnen hören, später, hier, in Mieza, habe ich sie als Teile eines Gefüges erzogen, als Gleiche, damit sie lernen, miteinander und mit anderen zu leben.
Rücksicht, Einpassung, all diese Dinge.
Keiner hat Herausragendes getan; es war auch nicht nötig.
Keiner hat auffällige Eigenschaften entwickelt, weil ich ihnen dazu keinen Anlaß gegeben habe.
Ich habe ihnen nur helfen können, ihre inneren Waagen auszuwiegen. Du wirst ihnen nun die Aufgabe übertragen, an denen sie sich beweisen müssen. Sie werden sich beweisen; der eine als Krieger, der andere als Denker. Perdikkas ist ein Kämpfer; Harpalos ist ein Rechner;
Alexander?
Sein inneres System ist sehr fein, und sehr schwierig auszuwiegen. Weil seine Waagen feiner sind und seine Schalen größer als die aller Menschen, denen ich je begegnet bin.
In ihm sind mehr Götter und Dämonen, als du und ich ertragen können. Solange seine Waagen ausgewogen sind, kann er sich zum größten König und wunderbarsten Führer von Männern entwickeln. Wenn aber eine Schale, die der Liebe oder der Gier oder der Tugend oder gleich welche, wenn also eine Schale und damit nur eine der zahllosen inneren Waagen deines Sohnes das Gleichgewicht verliert, dann wird er die ganze Welt vernichten. Vielleicht!”
Philipp fuhr sich mit der Hand über die Augen und grunzte.
“Klingt gefährlich. Wie soll ich mit ihm umgehen?”
“Vorsichtig, mein Freund. Und versuch, sein Freund zu sein!”
“Sein Freund? Ich bin der König und sein Vater!”
Aristoteles lächelte. “Das ist ein Zufall. Freundschaft bedarf der Bemühung.”
Aristoteles hob einen Becher, hielt ihn Philipp hin. Der König kam langsam zum Tisch, blickte sich um, als müsse er sich davon überzeugen, daß nirgendwo jemand auf der Lauer lag; er ließ sich schwer in den Scherensessel fallen.
“Und was willst du nun tun?”
Philipp trank, wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab und rülpste.
“Ich darf nicht anfangen – nicht ganz, jedenfalls. Athen muß den Krieg erklären. Weil Athen immer noch das Herz aller Dinge ist. Wenn ich Athen angreife, stellen sich fast alle Hellenen hinter Demosthenes. Wenn Athen uns den Krieg erklärt, werden viele Hellenen die Notwendigkeit bezweifeln und entweder auf unsere Seite treten oder zumindest nicht Demosthenes helfen. Wir haben es mit Euboia versucht, unsere Freunde dort an die Macht gebracht, kleine Besatzungen in die Städte gelegt. Mehr wäre ein Eroberungskrieg gewesen, den wir gegen hellenische Orte nicht führen dürfen – heute.
Demosthenes hat einen Bund zustandegebracht – nicht für Hellas, nicht gegen Persien, sondern hinter sich und gegen Philipp. Sie haben Eubioa, na ja, befreit; aber sie sind nicht weitergegangen.
Das wäre meine Hoffnung gewesen. Hermias war eine Nebenhoffnung, gewissermaßen, im Vorblick auf Persien. Wie gewisse Fehlschläge in Ägypten.”
Er hob den Becher und schaute Aristoteles über den Rand an.
“Jetzt werden wir sie eben zwingen müssen.”
“Du willst also Byzantion angreifen, wie damals schon geplant?”
“Byzantion, und Perinthos.”
Aristoteles pfiff leise. “Bosporus und Propontis – die ganze Küste! Mit welcher Begründung?”
Philipp grinste breit. “Mit der besten aller Begründungen – zur Verteidigung.
Beide Städte sind mehr oder minder mit Athen verbündet. Von beiden Städten gehen Störungen aus; immer wenn es mir gelungen ist, Thrakien halbwegs zu beruhigen, schüren Athen, Byzantion und Perinthos wieder Unruhen. Es ist schlecht für Makedonien, für Thrakien – sogar Thraker möchten hin und wieder in Frieden ihre Felder bestellen - für Hellas, für den Handel mit den Steppen im Norden. Für alle.”
“Und du meinst, Athen, also das Bündnis des Demosthenes, wird dich angreifen, sobald du Byzantion und Perinthos belagerst?”
Philipp lächelte unendlich sanft und tückisch. “Wenn die Städte fallen, beherrscht Makedonien den ganzen Norden und die Meerengen. Das kann Athen nicht hinnehmen. Und notfalls, wenn Demosthenes sich nicht mit seiner Kriegspolitik durchsetzen kann, werde ich noch ein wenig nachhelfen.”
"Wie, Herr der Makedonen?”
Aristoteles Stimme klang gleichzeitig bewundernd und spöttisch.
“Laß Dich überraschen, Fürst der Philosophen. Parmenion, der mich übrigens bat, dir seine Verehrung und Freundschaft zu Füßen zu legen, ist unterwegs nach Osten, mit den meisten Truppen.“
Philipp kniff die Augen zusammen. “Wir werden ein paar neue Dinger erproben; neue Belagerungsmaschinen und bewegliche Türme, die nicht gleich umfallen, wenn man an ihnen zupft. Polydias – du kennst ihn, glaube ich – hat den Winter über Einzelteile entworfen; sie werden mit Schiffen und Karren dorthin gebracht und zusammengebaut. Parmenion und ich werden zwischen Byzantion, Perinthos, dem großen Fluß im Norden, Istros, und Thrakien für den Fortschritt der Dinge sorgen. Antipatros wird zwischen Illyrien und Thessalien hin und her wandern, in tiefer Nachdenklichkeit; er wird den Thessaliern die Wangen tätscheln, wenn ihnen die Furcht ins Gemüt steigen sollte; er wird dem König der Illyrer die Nase putzen, wenn dieser sie allzu tief in unsere Dinge steckt; er wird Straßen anlegen; von Norden nach Süden, oder vorhandene ausbessern; er wird Vorratslager einrichten – es könnte ja sein, man weiß es nicht, daß Athen uns den Krieg erklärt und wir dann schnell große Truppenverbände nach Süden verlegen müssen.
Und er wird Krieger werben und ausbilden.”
“Deshalb...”
Philipp beugte sich vor, die Unterarme auf der Tischplatte.
“Genau – deshalb. Ich brauche Alexander, und die besten der anderen.
Er ist jung; gewisse Dinge lernt man erst mit der Zeit. Wissen aus Büchern, sein Leben in Pella und Mieza, der Umgang mit Fürstensöhnen und rauhen Kämpfern in Beroia, all dies wird ihn, wenn er gut ist, fähig machen, Pella zu leiten – den Hof, die Verwaltung, den Nachschub. Erfahrene Kämpfer will ich ihm nicht unterstellen, bevor ich ihn nicht selbst im Kampf gesehen habe. Denn dies ist eine Sache, die man nicht aus Büchern lernen kann.”
“Das weiß er – wie die anderen.“ Aristoteles hob den Napf mit der Brühe, die inzwischen ein wenig abgekühlt und trinkbar geworden war. “Sie wissen es, weil ich es ihnen gesagt habe.” Philipp verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte Aristoteles lange an.
“Ich danke Dir”, sagte er dann gedehnt. “Ich hatte gehofft, daß du unter den Philosophen vielleicht als einziger weißt, wo das nützliche Wissen, das man mit Wörten vermitteln kann, enden muß und wo die Tat beginnt. Sag - ist er gut genug?”
Aristoteles blies noch einmal über die Brühe, trank, setzte den Napf ab.
“Alexander ist der beste Schüler, den ich je hatte. Aber...”
“Aber was?”
“Er hat einige seltsame Ideen über Hellenen und Barbaren und ihre Gleichwertigkeit.
Und... er ist zu gut.“
Philipp verzog das Gesicht. “Wie kann jemand zu gut sein?”
Aristoteles schloß die Augen; er sprach halblaut und sehr ernst.
“Inwendig ist der Mensch ein System von Waagen und Schalen. Liebe und Haß. Geiz und Großmut. Tugend und Niedriges. Wenn die Schalen gleichmäßig gefüllt sind, die Waagen ausgewogen, dann kann ein Mensch seinen Platz im Gefüge der Dinge einnehmen und sein Bestes tun. Wenn eine der Schalen zu voll oder nicht voll genug ist, wenn die Waage kippt, wird er vielleicht zu gierig oder geht durch allzu weitherzige Großzügigkeit zugrunde oder ist zu kriegerisch und vergißt, daß auch Gold oder Verträge oder Versprechungen zum Ziel führen können. Wenn die Liebste nicht eingesperrt ist, sollte man die Wand ihres Hauses nicht mit dem Kopf niederrammen, sondern die Tür benutzen.”
Philipp rümpfte die Nase. “Ja. Und weiter?”
“Alexander ist ausgewogen. Soweit man dies von einem jungen Mann sagen kann.
All seine Freunde...
Die Welt wird von ihnen hören, später, hier, in Mieza, habe ich sie als Teile eines Gefüges erzogen, als Gleiche, damit sie lernen, miteinander und mit anderen zu leben.
Rücksicht, Einpassung, all diese Dinge.
Keiner hat Herausragendes getan; es war auch nicht nötig.
Keiner hat auffällige Eigenschaften entwickelt, weil ich ihnen dazu keinen Anlaß gegeben habe.
Ich habe ihnen nur helfen können, ihre inneren Waagen auszuwiegen. Du wirst ihnen nun die Aufgabe übertragen, an denen sie sich beweisen müssen. Sie werden sich beweisen; der eine als Krieger, der andere als Denker. Perdikkas ist ein Kämpfer; Harpalos ist ein Rechner;
Alexander?
Sein inneres System ist sehr fein, und sehr schwierig auszuwiegen. Weil seine Waagen feiner sind und seine Schalen größer als die aller Menschen, denen ich je begegnet bin.
In ihm sind mehr Götter und Dämonen, als du und ich ertragen können. Solange seine Waagen ausgewogen sind, kann er sich zum größten König und wunderbarsten Führer von Männern entwickeln. Wenn aber eine Schale, die der Liebe oder der Gier oder der Tugend oder gleich welche, wenn also eine Schale und damit nur eine der zahllosen inneren Waagen deines Sohnes das Gleichgewicht verliert, dann wird er die ganze Welt vernichten. Vielleicht!”
Philipp fuhr sich mit der Hand über die Augen und grunzte.
“Klingt gefährlich. Wie soll ich mit ihm umgehen?”
“Vorsichtig, mein Freund. Und versuch, sein Freund zu sein!”
“Sein Freund? Ich bin der König und sein Vater!”
Aristoteles lächelte. “Das ist ein Zufall. Freundschaft bedarf der Bemühung.”
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!