Der Verrat des Kallisthenes
#1
Alexanders Leibdiener Bagoas erzählt:

Seit der Hochzeit von Alexander und Roxanne gab Kallisthenes mit seinem Asketentum an. Er hatte an der Hochzeit nicht teilgenommen, angeblich wegen Übelkeit, obwohl er am nächsten Tag wieder auf den Beinen war. Alexander, der wie immer gewillt war, zu vergessen und zu verzeihen, bat ihn später sogar zum Abendessen, mußte aber mit der gleichen Entschuldigung vorlieb nehmen. Nur wenige Leute luden den Kallisthenes überhaupt ein; er war ein grimmiger Gast und verdarb stets die Stimmung. Damals wußte ich es nicht – aber er gefiel sich als Anhänger der neuen athenischen Philosophenschule (der alte Sokrates, so sagte man, war ein angenehmer Gesellschafter gewesen); und wenn ich mehr über Griechenland gewußt hätte, dann hätte ich vielleicht auch den Grund erraten. Dennoch dachte ich, daß es nützlich wäre, ihn zu beobachten, und lauschte, wenn ich an dem Zelt vorbeiging, in dem er seinen Unterricht hielt. Bei manchen Themen sprach er mit einer anderen Stimme als sonst.

Obwohl es mir immer ein Vergnügen war in den Wald zu reiten, fand ich doch noch Zeit für mein Griechisch und auch dazu, Kallisthenes und seine Schüler zu beobachten. Er unterrichtete natürlich nie alle Knappen auf einmal. Manche waren im Dienst, und die Nachtwache schlief. Sie wurden ihren Wachen zugeteilt, obwohl Alexander nicht streng war, wenn sie um einen Tausch baten. Hermolaos und Sostratos durften zusammen Dienst tun. Um sie nahm sich Kallisthenes besonders an. Ich habe oft über ihn nachgedacht. Er wußte, daß der alte Sokrates nie den Fußfall getan hätte; genauso wenig wie Plato. Aber Alexander hätte das von ihnen genausowenig verlangt wie von Aristoteles, wenn er die Reise hierher unternommen hätte. Alexander anerkannte Herzensgröße und hielt sie in Ehren, wie sich auch später in Indien noch zeigte. Kallisthenes jedoch, der ihm zuerst geschmeichelt und ihn dann beleidigt hatte, ehrte er nicht. Warum sollte er auch? Es gibt immer Menschen, die Größe nach ihrem eigenen Maßstab messen und sie hassen, aber nur, weil sie sie nicht selbst besitzen. Sie sind imstande, sogar die Toten zu beneiden.

Das wußte Alexander. Er begriff aber nicht, daß solche Menschen die Macht besitzen, auch in anderen den schlafenden Neid zu wecken, den sie einst, wie es sich gehörte, als Schande empfunden hatten; sie haben die Macht, Ehrfurcht vor dem Außergewöhnlichen in Haß zu verwandeln. Freilich war das auch Kallisthenes selbst nicht klar.

Sah Kallisthenes, daß er Alexanders anderen Gefolgsleiten unähnlich war, ja beinahe ihr Gegenteil? Kallisthenes dachte an ein größeres Griechenland, das schon lange tot war. Für die jungen Makedonen, die in seinem Bann standen, war Griechenland nichts weiter als ein Name; das Neue, das Kallisthenes ihnen zu bieten hatte, war eine Aufforderung zum Trotz.

Hermolaos und Sostratos reagierten auf diese Aufforderung und machten auch auf andere Eindruck. Alexander wurde aufmerksam. Es war ein Privileg der Knappen, daß sie unmittelbar unter dem König dienten; niemand anderer durfte sie bestrafen. Sostratos wurde getadelt und als zusätzliche Wache eingeteilt; Hermolaos erhielt einen Verweis.

Ihre Dienstzeit näherte sich dem Ende; sobald ein neues Kontingent aus Makedonien ankam, würden sie abgelöst werden. Sie waren keine Jungen mehr, die man dummer Streiche, sondern Männer, die man der Meuterei verdächtige, das wußten sie.

So war der Stand der Dinge, es war eine ungute Zeit.

Ungefähr einen Monat später gab Perdikkas ein Fest, zu dem alle hohen Makedonen eingeladen waren. Durch die offene Zelttür sah ich Thais, die Frau des Ptolemäus, wie sie, mit Rosen bekränzt, auf einem Sofa in Alexanders Nähe saß. Alexander und Thais kannten sich seit Alexanders Kindheit, da die athenische Priesterin die Frau des Ptolemäus geworden war, lange bevor Alexander nach Asien übersetzte. Damals war Thais noch sehr sehr jung gewesen, jetzt stand sie in der Blüte ihrer Schönheit. Alexander war immer gut mit ihr ausgekommen. Sie war das Mädchen, dem die große Ehre zuteil wurde, die erste Fackel auf Persepolis zu werfen; und die damit als athenische Priesterin Rache für das vollzog, was die Perser 150 Jahre zuvor ihrer Heimatstadt angetan hatten. Rund um das Zelt standen die Nachtwachen, die üblichen drei Doppelposten; Hermolaos, Sostratos, Antikles, Epimenes und ein weiteres Paar. Antikles war erst vor kurzem von einer anderen Wache übergewechselt. Ich stand im Hintereingang des Zeltes und sog die Düfte der Nacht ein, lauschte dem Stimmengewirr im Lager, dem Bellen eines Hundes – es war nicht Alexanders Hund Peritas, der in tiefem Schlaf neben Alexanders Bett lag – und dem Gelächter vom Fest. Aus der offenen Tür des Zeltes fiel Licht schräg auf die Zedern.

Die Frauen gingen. Sie quietschten und kicherten, da sie auf den weichen Zedernnadeln ausglitten. Fackelträger wiesen ihnen den Weg unter den Bäumen. Im Zelt schlug jemand eine Laute an, und man begann zu singen.

Gefesselt von der Schönheit der Nacht, den flackernden Lichtern und der Musik, blieb ich, ich weiß nicht, wie lange, dort. Plötzlich war Hermolaos neben mir. Ich hatte ihn nicht gehört, der weiche Boden hatte seine Schritte gedämpft. „Bleibst du auf, Bagos? Der König sagte, es würde sehr spät werden.“

Ich antwortete, daß ich eben schlafen gehen wollte, als ich eine Fackel näher kommen sah. Anscheinend hatte ich recht lange vor mich hingeträumt. Die Fackel leuchtete Alexander. Perdikkas, Ptolemäus, Seleukus, Leonnatos und Hephaistion begleiteten ihn. Sie schienen ziemlich sicher auf den Beinen zu sein und lachten alle durcheinander.

Froh, daß ich gewartet hatte, wollte ich gerade ins Zelt hineingehen, als ich in dem flackernden Fackellicht die syrische Wahrsagerin sah, die den Troß seit einigen Monden begleitete. Sie kam wie eine Nachteule auf Alexander zugeflattert, zerrte an seinem Gewand und richtete sich dann auf, um seinen Kranz gerade zu rücken. „Was ist denn, Mutter?“ sagte der König lächelnd. Alexander vertraute ihr, denn ihre Prophezeihungen hatten sich stets als wahr erwiesen. „Heute Abend habe ich nichts mehr vor, als mich schlafen zu legen …“

„O nein, mein König!“ Sie packte Alexander mit ihrer kleinen nußbraunen Faust. „Nein, Kind des Amunzeus und Liebling der Götter! Geh zurück zum Fest, feiere bis Sonnenaufgang, nur so triffst du dein Glück! Nichts davon gibt es für dich hier, o Liebling der Götter.“

„Siehst du?“ sagte Perdikkas. „Komm zurück und bring uns Glück.“

Alexander sah die Freunde lachend an. „Die Götter geben guten Rat. Wer kommt wieder mit zurück?“

Alle kehrten zurück, außer Ptolemäus und Leonnatos, die am nächsten Morgen zur Leibwache eingeteilt waren. Während ich zum Zelt zurückging, sah ich, daß die Knappen ihre Posten verlassen hatten und miteinander flüsterten. Schlechte Disziplin, dachte ich. Na ich muß ins Bett.

Und doch, ich ging noch immer nicht schlafen. Die Nacht erschien mir jetzt, nachdem ich die Worte der Wahrsagerin gehört hatte, unheimlich. Es gefiel mir nicht, daß sie gesagt hatte, hier gäbe es kein Glück für Alexander. Ich betrat wieder das Zelt. Die Knappen steckten noch immer die Köpfe zusammen; jedermann hätte, so wie ich, ungesehen eintreten können. Die werden nie ordentliche Soldaten abgeben, dachte ich.

Am Fußende des Bettes von Alexander lag wie gewöhnlich Peritas der Hund ausgestreckt da und schnarchte. Aber kein Zucken seiner Pfoten verriet, daß er einer Traumbeute hinterherjagte. Er lag da ziemlich still und hob nicht mal seinen Kopf bei meinem Eintreten. Ich werde Alexander vor Unglück schützen, dachte ich, da es nicht einmal der Hund tut. Ich rollte mich in einer entfernten Ecke des Zeltes zusammen, um nicht aufzufallen, wenn die Freunde des Königs mit ihm kommen sollten. Die Zedernnadeln machten den Boden so weich wie eine Matratze.

Als ich erwachte, war es heller Tag. Alexander war da, er schlief auf seinem Lager. Im äußeren Teil des Zeltes ertönten Stimmen, die mir zu laut vorkamen. Die Leibwache, Ptolemäus und Leonnatos, hatten da zwei Männer aufgegriffen, die offensichtlich großes Aufsehen verursachten. Zu meiner Überraschung erkannte ich den jungen Epidemes von der Nachtwache, der schluchzte, das Gesicht in den Händen verborgen. Ich trat hervor und sagte zu Ptolemäus, daß der König schlafe und um Ruhe gebeten habe.

„Das weiß ich“, sagte Ptolemäus kurz angebunden. „Aber ich werde ihn wecken müssen. Er hat Glück, daß er noch am Leben ist. Leonnatos, kann ich die zwei dir überlassen?“

Was um alles in der Welt war geschehen? Es war unerhört, den König gegen seinen Befehl aus dem Schlaf zu wecken. Aber Ptolemäus war kein Dummkopf. Ich ging hinter ihm ins Zelt, ohne Entschuldigung, doch er duldete meine Anwesenheit.

Alexander hatte sich auf den Rücken gedreht und schnarchte leise; er mußte sehr tief schlafen. Ptolemäus beugte sich über ihn und rief ihn beim Namen. Alexanders Lider zuckten, aber er rührte sich nicht. Ptolemäus schüttelte ihn. Endlich erwachte er. Er sah aus, als wäre er blind vor Müdigkeit. Mit einem tiefen Seufzer zwang er sich, die Augen aufzuschlagen, und sagte: „Was ist denn?“

„Bist du wach, Alexander? Hör zu. Es geht um dein Leben.“

„Ja. Ich bin wach. Weiter.“

„Da ist ein Knappe, Epimenes, gestern Abend hatte er Wache. Er sagt, daß sie alle geplant hatten, dich im Schlaf zu töten. Wärst du zu Bett gegangen, so hätten sie es getan.“

Tiefe Furchen zeigten sich auf Alexanders Stirn. Langsam setzte er sich auf und rieb sich die Augen. Ich holte ein Handtuch, das ich in kaltes Wasser getaucht und ausgewrungen hatte; er nahm es und wischte sich das Gesicht ab. Dann sagte er: „Wer weint da?“

„Der Knappe Epimenes, ihn reut es, da du immer gerecht zu den Knappen gewesen bist. Er hat es aus Reue zunächst seinem älteren Bruder erzählt, der bei den Hetairos, der Gefährtenreiterei, ist. Dieser hat ihn sofort hierher gebracht, damit er dir alles erzähle.“

„Aha. Verschaff mir den Namen dieses Mannes, ich bin ihm zu Dank verpflichtet. Und die Übrigen? Was wollten sie tun?“

„Warten. Warten, bis sie wieder an die Reihe kommen. Einen ganzen Monat haben sie gebraucht, sagt der Kappe Epimenes, bis es ihnen gelang, zur selben Wache eingeteilt zu werden. Deswegen haben sie sich heute früh da noch herumgetrieben, nach ihrer Ablöse. Es ging ihnen nicht in den Kopf, daß es nach all ihren Anstrengungen ein Fehlschlag war.“

„Ja“, sagte Alexander langsam. „Ja, ich verstehe. Gibt es noch irgendwelche anderen Namen?“

„Einen oder zwei. Ich habe sie notiert. Willst du sie von ihm oder von mir hören?“

Der König hielt inne und wischte sich dann mit dem Handtuch über die Augen. „Nein, verhafte sie alle. Ich werde mich morgen damit befassen. Ich kann in diesem Zustand keinen Hochverratsprozeß leiten. Aber ich will mit Epimenes reden.“

Alexander stand auf. Ich legte ihm einen neuen Chiton an. Als er hinaustrat, fielen die beiden Brüder auf die Knie, der ältere mit ausgestreckten Händen. Der König sagte: „Nein, Eurylochos, bitte nicht um das Leben deines jüngeren Bruders.“ Der Mann wurde aschfahl. „Nein, du verstehst mich falsch; ich wollte sagen, raube mir nicht das Vergnügen, es ihm zu schenken, ohne daß du mich darum bittest.“ Alexander hatte ihn nicht seelisch quälen wollen mit seiner zweideutigen Formulierung; er war noch immer nicht richtig wach. „Ich werde euch später danken. Ihr beide werdet morgen gebraucht, aber beruhigt euch.“ Er gab beiden die Hand und lächelte ihnen zu. Man konnte ihnen ansehen, daß jeder von ihnen von nun an nur auf ein Wort hin für ihn sterben würde.

Als sie gegangen waren, sagte er zu Ptolemäus: „Verkünde eine Amnestie für die nächsten Verwandten, sonst laufen sie davon. Warum soll man denn so weit gehen; wir wissen, wo alles seinen Anfang genommen hat. Verhafte ihn. Halte ihn von den anderen getrennt.“

„Du meinst Hermolaos?“

„Ich meine Kallisthenes. Es ist an der Zeit."

Die Knappen wurden zum Verhör ins Lager geschafft. Ptolemäus berichtete kurze Zeit später, daß sie alle gestanden, von Kallisthenes angestachelt worden zu sein ...
Entweder man findet einen Weg oder man schafft einen Weg!
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