Mythologia Sociologica
#1
"Stellt euch die Welt vor, wie sie ist – regiert von Göttern, die in einem Pantheon zusammensitzen. In einem jämmerlichen Pantheon, vielleicht ist eher zu sprechen von einem Pandämonium, denn sie sind eher Dämonen als Götter, obgleich sie die Belange der Menschen regeln und alle Güter, geistige wie materielle, an sie verteilen. Ihre Mutter war die Sprache, die die Dinge der Welt voneinander unterschied und benannte, schließlich den Menschen ihr Denken schenkte. Dann aber wurde sie von ihren eigenen Kindern umgebracht, als diese die Macht über die Gedanken der Menschen an sich rissen:
Wirtschaft ist eine grausam kalte Göttin, die die Peitsche der Knappheit in der unsichtbaren Hand hält und damit die Esel des Fortschritts antreibt. Haben und Nichthaben heißen ihre Hände, mit ihnen schiebt sie Dinge und Menschen hin und her.
Recht ist ein blinder und gefühlloser alter Greis, vergraben in einem Ameisenhaufen, aus dem wie Ameisenkolonnen stumpf und sinnentleert Phrasen und unverständliche Formulierungen marschieren, hinaus in die Welt eilen, jeden noch so kleinen Krümel in der Welt anheben, umdrehen und in Zusatzbemerkungen zu Paragraphen von Gesetzen erwähnen. Aus den Gesetzen, aufgetürmt, übereinander zusammengebrochen, unentwirrbar labyrinthisch ineinander verschlungen und von Gängen durchzogen, besteht der Ameisenhaufen, aus dem sich immer wieder mal schwach und zuckend die Hand des alten Mannes erhebt und einen Richterhammer in die Menschenwelt nieder knallen lässt und den Menschen seine Entscheidungen über Recht und Unrecht schenkt.
Wissenschaft ist eine dicke Frau, lebend und atmend, die leider ihren Kopf verloren hat. Dieser rollt unkoordiniert über den Boden, herumgewirbelt von Sprachspielern, die mit ihm Fußball spielen, bis er oben und unten nicht mehr voneinander trennen kann. In ihm streiten sich sich die Geisteswissenschaften, locker miteinander vernetzt, über den Begriff der Wahrheit und der Erkenntnis. Der Körper liegt ein Stück entfernt auf dem Boden, mit dem Kopf verbunden durch das Rückenmark der Mathematik, das sich verknotet aus dem Hirn um Bäume und imaginäre Dimensionen windet, bis es schließlich nach langer Reise im Körper der Naturwissenschaften landet. Dessen Arme der Nuklearphysik und Hände der Kerntechnologie, dessen Beine der Medizin und Chemie und dessen Füße der Gentechnik und Pharmazie schlagen und treten wild um sich – immer wieder schwillt eine Hand abrupt an, bis sie größer ist als die Wissenschaft selbst, ballt sich zur Faust und zerstört Leben, um dann wieder zu erschlaffen und erneut Teil sein des kranken Körpers der armen, zerrissenen Frau.
Politik ist eine blinde Königin, auf ihren Thron gefesselt und ohne Gliedmaße. Die Zacken ihrer Krone haben verschiedene Farben und diskutieren miteinander, wobei jede eine andere Ideologie vertritt. Zuweilen öffnet sich der Mund der Königin und heraus stößt ein Arm, dessen Hand ein loderndes Schwert hält und blindlings auf die Welt ein hackt.
Religion ist eine Schildkröte, die unter ihrem großen, leuchtenden Panzer das „Geheimnis“ trägt und schon einigen verraten hat, was es birgt – doch jedem diesen Propheten wurde etwas Anderes offenbart. Überein stimmen sie darin, dass sich im Panzerinneren auch die ganze Welt befinde, durch die sie selbst sich bewegt und jeder, der ihr begegnet. Das erzählt sie nämlich jedem dieser Begegnenden, und jeder glaubt es ihr. Den Panzer zu öffnen und nachzuschauen traut sich keiner, weil damit nicht nur die Religion, sondern die ganze Welt aufhören würde zu sein – sagt die Schildkröte.
Kunst ist eine Fee, die durch die Welt tanzt, sie in bunte Farben hüllt und nach Blumen duften lässt, manchmal aber auch alles grau färbt und stinken lässt. Alles was sie macht, erhält dadurch ihren Sinn und wird zu Kunst, weil es Kunst ist.
Das Massenmedium ist ein Wind, der alles durcheinander wirbelt und die Gedanken der Menschen, wenn sie sich zu Dünen auftürmen, niederreißt und alles Wollen flach hält. Er wirft den Menschen häppchenweise nicht zusammenhängende Fetzen Information zu – um sie anschließend unter Bergen aus Unterhaltung und Reizüberflutung zu vergraben.
Liebe ist ein blasser, dünner und humorloser Wichtel, der Menschen aneinander bindet, damit sie sich fortpflanzen. Manchmal ist er frustriert über seine eigene Bedeutungslosigkeit, tut sich mit dem Massenmedium zusammen und produziert Pornos.
Die Moral ist der Geist der getöteten Kommunikation, der noch durch das Denken der Menschen weht und von Zeit zu Zeit seine hohle Stimme erklingen lässt, um die Menschen vor den Dämonen zu bewahren. Wendet sie sich aber an die Dämonen, wird sie ignoriert.

Solches sprach in unseren Zeiten der große Prophet Luhammed – und bastelte sich damit keine Verschwörungstheorie und kein abgedrehtes Gleichnis, sondern eine soziologische Theorie. Und dass er im Grunde nichts anderes als Dämonen beschrieb, wusste er gar nicht, auch nicht, dass seine Theorie als Mythologie gelesen werden kann. Er sprach auch nicht von der Mutter Sprache, die von ihren dämonischen Kindern getötet wird, sondern von menschlicher Kommunikation, die sich zu Funktionssystemen ausdifferenziere. Außer dass das mit den Funktionssystemen von nur wenigen Menschen mit viel Geduld verstanden werden kann, kommt aber doch das Selbe bei raus."
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#2
kleiner Zusatz:
"Haue nie dem Mann auf den Kopf, zwischen dessen Zähnen du deine Finger hast."
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#3
Hallo,

also dann einfach mal querbeet ein paar Anmerkungen zu diesem wunderschönen Text:


Zitat:"Stellt euch die Welt vor, wie sie ist – regiert von Göttern, die in einem Pantheon zusammensitzen. In einem jämmerlichen Pantheon, vielleicht ist eher zu sprechen von einem Pandämonium, denn sie sind eher Dämonen als Götter, obgleich sie die Belange der Menschen regeln und alle Güter, geistige wie materielle, an sie verteilen.

Die wahren Götter kümmern sich nicht um die Menschen. Es interessiert sie gar nicht, was die Homo Sapiens tun. Sie halten sich da heraus, sind neutral. Die, die mit ihrem Weltherrschaftsanspruch sich tatsächlich um die Belange der Menschen kümmern, sich in jedes noch so kleine Detail des Alltags einmischen, kann man eigentlich nicht als Götter bezeichnen. Hier wäre der Ausdruck "Dämon" wohl tatsächlich angebracht. Man muß eben nur aufpassen, daß man die Begriffe nicht verwechselt.


Zitat:Ihre Mutter war die Sprache, die die Dinge der Welt voneinander unterschied und benannte, schließlich den Menschen ihr Denken schenkte.

Ja, das Werturteil war geboren und mit ihm Sympathie und Antipathie, Gedanken, Emotionen und Einmischungstendenzen.


Zitat:Dann aber wurde sie von ihren eigenen Kindern umgebracht, als diese die Macht über die Gedanken der Menschen an sich rissen:

Die Puppen lehnen sich gegen ihre Meister auf, aber Puppen wissen nicht, was die Meister wissen.


Zitat:Wirtschaft ist eine grausam kalte Göttin, die die Peitsche der Knappheit in der unsichtbaren Hand hält und damit die Esel des Fortschritts antreibt. Haben und Nichthaben heißen ihre Hände, mit ihnen schiebt sie Dinge und Menschen hin und her.

Das ist das irdische Spiel, das sich diese Dämonen ausgedacht haben und mit dem sie die Welt in Spannung, Knechtschaft und Emotionen halten wollen.


Zitat:Recht ist ein blinder und gefühlloser alter Greis, vergraben in einem Ameisenhaufen, aus dem wie Ameisenkolonnen stumpf und sinnentleert Phrasen und unverständliche Formulierungen marschieren, hinaus in die Welt eilen, jeden noch so kleinen Krümel in der Welt anheben, umdrehen und in Zusatzbemerkungen zu Paragraphen von Gesetzen erwähnen. Aus den Gesetzen, aufgetürmt, übereinander zusammengebrochen, unentwirrbar labyrinthisch ineinander verschlungen und von Gängen durchzogen, besteht der Ameisenhaufen, aus dem sich immer wieder mal schwach und zuckend die Hand des alten Mannes erhebt und einen Richterhammer in die Menschenwelt nieder knallen lässt und den Menschen seine Entscheidungen über Recht und Unrecht schenkt.

Ganz früher gab es eine andere Rechtssprechung und -vollstreckung. Eine Art Automatismus, der ohne Emotionen und ohne Paragraphen ausgekommen ist.


Zitat:Wissenschaft ist eine dicke Frau, lebend und atmend, die leider ihren Kopf verloren hat. Dieser rollt unkoordiniert über den Boden, herumgewirbelt von Sprachspielern, die mit ihm Fußball spielen, bis er oben und unten nicht mehr voneinander trennen kann. In ihm streiten sich sich die Geisteswissenschaften, locker miteinander vernetzt, über den Begriff der Wahrheit und der Erkenntnis.

Wie schon gesagt: Puppen wissen nicht, was die Meister wissen. Deshalb irren sie herum und suchen nach Antworten.


Zitat:Der Körper liegt ein Stück entfernt auf dem Boden, mit dem Kopf verbunden durch das Rückenmark der Mathematik, das sich verknotet aus dem Hirn um Bäume und imaginäre Dimensionen windet, bis es schließlich nach langer Reise im Körper der Naturwissenschaften landet. Dessen Arme der Nuklearphysik und Hände der Kerntechnologie, dessen Beine der Medizin und Chemie und dessen Füße der Gentechnik und Pharmazie schlagen und treten wild um sich – immer wieder schwillt eine Hand abrupt an, bis sie größer ist als die Wissenschaft selbst, ballt sich zur Faust und zerstört Leben, um dann wieder zu erschlaffen und erneut Teil sein des kranken Körpers der armen, zerrissenen Frau.

Politik ist eine blinde Königin, auf ihren Thron gefesselt und ohne Gliedmaße. Die Zacken ihrer Krone haben verschiedene Farben und diskutieren miteinander, wobei jede eine andere Ideologie vertritt. Zuweilen öffnet sich der Mund der Königin und heraus stößt ein Arm, dessen Hand ein loderndes Schwert hält und blindlings auf die Welt ein hackt.

Politik ist eine Manipulationsmethode.


Zitat:Religion ist eine Schildkröte, die unter ihrem großen, leuchtenden Panzer das „Geheimnis“ trägt und schon einigen verraten hat, was es birgt – doch jedem diesen Propheten wurde etwas Anderes offenbart.

Die Schildkröte ist in der fernöstlichen Kultur ein Symbol für langes Leben. Die alte Stadt Pingyao in Shanxi ist in Form einer Schildkröte gebaut und bis heute Weltkulturerbe. Diese Tierform der Stadtmauern hat den Wunsch der Chinesen in der alten Zeit gezeigt, daß die Stadt Pingyao durch die Kräfte der mythischen Schildkröte immer felsenfest bleiben und ewig fortleben sollte.

Religion, Propheten, Astrologie sind eine weitere Manipulationsmethode.


Zitat:Überein stimmen sie darin, dass sich im Panzerinneren auch die ganze Welt befinde, durch die sie selbst sich bewegt und jeder, der ihr begegnet. Das erzählt sie nämlich jedem dieser Begegnenden, und jeder glaubt es ihr. Den Panzer zu öffnen und nachzuschauen traut sich keiner, weil damit nicht nur die Religion, sondern die ganze Welt aufhören würde zu sein – sagt die Schildkröte.

Das passt zum Thema: "Ist unsere Welt ein Hologramm?"


Zitat:Kunst ist eine Fee, die durch die Welt tanzt, sie in bunte Farben hüllt und nach Blumen duften lässt, manchmal aber auch alles grau färbt und stinken lässt. Alles was sie macht, erhält dadurch ihren Sinn und wird zu Kunst, weil es Kunst ist.

Kunst wird von den Mächtigen als Träger der Desinformationskampagne und zum Transport von Mem-Viren benutzt.


Zitat:Das Massenmedium ist ein Wind, der alles durcheinander wirbelt und die Gedanken der Menschen, wenn sie sich zu Dünen auftürmen, niederreißt und alles Wollen flach hält. Er wirft den Menschen häppchenweise nicht zusammenhängende Fetzen Information zu – um sie anschließend unter Bergen aus Unterhaltung und Reizüberflutung zu vergraben.

Massenmedien = Mem-Viren, Manipulation und Desinformationskampagne.


Zitat:Liebe ist ein blasser, dünner und humorloser Wichtel, der Menschen aneinander bindet, damit sie sich fortpflanzen. Manchmal ist er frustriert über seine eigene Bedeutungslosigkeit, tut sich mit dem Massenmedium zusammen und produziert Pornos.

Liebe ist ein Instrument zur Herrschaft über den Mitmenschen, zur Bevormundung und zur Kontrollsucht.


Zitat:Die Moral ist der Geist der getöteten Kommunikation, der noch durch das Denken der Menschen weht und von Zeit zu Zeit seine hohle Stimme erklingen lässt, um die Menschen vor den Dämonen zu bewahren. Wendet sie sich aber an die Dämonen, wird sie ignoriert.

Inquisition und Hexenverfolgung gibt es leider auch noch im 21. Jh.


Zitat:Solches sprach in unseren Zeiten der große Prophet Luhammed – und bastelte sich damit keine Verschwörungstheorie und kein abgedrehtes Gleichnis, sondern eine soziologische Theorie. Und dass er im Grunde nichts anderes als Dämonen beschrieb, wusste er gar nicht, auch nicht, dass seine Theorie als Mythologie gelesen werden kann. Er sprach auch nicht von der Mutter Sprache, die von ihren dämonischen Kindern getötet wird, sondern von menschlicher Kommunikation, die sich zu Funktionssystemen ausdifferenziere. Außer dass das mit den Funktionssystemen von nur wenigen Menschen mit viel Geduld verstanden werden kann, kommt aber doch das Selbe bei raus."


Der Text/Mythologie oder was auch immer, gefällt mir jedenfalls sehr gut. Vielen Dank, Nguyen!
Entweder man findet einen Weg oder man schafft einen Weg!
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