15.08.12002, 10:00
SEUCHEN
Von Nase zu Nase
Hat der Rinderwahn die Steak-Nation erreicht?
Hirsche in den USA gehen an einer BSE-artigen Hirnseuche zu Grunde. Nun gibt es Tote auch unter Jägern.
Nachts schleichen Hobbyjäger und staatlich bestellte Scharfschützen durchs Gestrüpp. Sie sollen nicht einfach töten - sie sollen ausrotten. Ihr Auftrag lautet, möglichst alle Weißwedelhirsche in einer Gegend im Süden des US-Bundesstaates Wisconsin bis Ende des Jahres zur Strecke zu bringen; über 25.000 Tiere müssen sterben. Die Kadaver werden verbrannt.
Solche Schlachtszenen hat es in Wisconsin seit ewigen Zeiten nicht gegeben. "Es ist wie im Krieg", sagt Anwohner Ross Reinhold. Er lebt zwar ziemlich privat auf eigenen 40.000 Quadratmeter Land; aber selbst dort fürchtet er um die Sicherheit seiner Enkel und seines Hundes.
Normalerweise ist die Jagdzeit im November, wenn die Bäume kein Laub mehr tragen und die Hirsche im Schnee leicht auffallen. Jetzt aber kommen die Jäger schon im Sommer, wo sie kaum etwas sehen und nur schwer zwischen Freund und Feind unterscheiden können.
Mit dem Hirsch-Gemetzel versuchen Veterinäre die Seuche CWD (Chronic Wasting Disease) aufzuhalten, die sich in den letzten Monaten unter Hirschen dramatisch ausgeweitet hat. Neun US-Bundesstaaten und zwei Provinzen von Kanada sind schon betroffen. Infizierte Tiere magern nach jahrelanger Inkubationszeit ab, sie werden nervös und wirr, sie torkeln, und schließlich sterben sie vollkommen ausgezehrt.
Tierärzte, Jäger und Politiker sind alarmiert: In vielem gleicht CWD dem aus Europa bekannten Rinderwahn. Die Seuche zählt wie BSE zur Gruppe der "spongiformen Enzephalopathien", die das Gehirn ihrer Opfer schwammartig zersetzen. Auslöser von BSE wie CWD sind entartete Formen von bestimmten Eiweißen, "Prionen" genannt. Anders als BSE jedoch ist CWD offenbar hochgradig ansteckend: Womöglich hat schon Nasenkontakt durch einen Zaun bei Rothirschen ausgereicht, die Seuche von Hirsch-Farmen hinaus in die Wildnis zu tragen.
"Wir wissen sehr, sehr wenig", sagt Stanley Prusiner, Neurologe aus San Francisco, der für seine Prionen-These 1997 den Medizin-Nobelpreis bekam. Vollkommen unklar sind selbst die wichtigsten Fragen zu CWD: Kann die Seuche wie BSE weitere Artengrenzen überwinden? Sind die bisher BSE-freien Weiderinder der Steak-Nation in Gefahr? Kann Hirschwahn auf den Menschen überspringen?
Nachweislich kann BSE-verseuchtes Fleisch beim Menschen zu einer neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (nvCJK) führen. 115 Briten sind bisher daran gestorben, die meisten von ihnen waren, anders als die typischen Opfer der klassischen CJK-Variante, sehr jung.
Auch Doug McEwen war erst 30 Jahre alt, als er 1999 an CJK starb. Er war Jäger und stammte aus Utah, dem Nachbarstaat des CWD-Epizentrums Colorado. Zwei weitere junge Leute unter 30 sind zwischen 1997 und 2000 an der höchst seltenen CJK gestorben - ein Jäger und die Tochter eines Jägers. Sie alle hatten oft Wild gegessen, wie Forscher in der Fachzeitschrift "Archives of Neurology" kürzlich berichteten. Trotzdem haben die Autoren der Studie, Experten der Seuchenkontrollbehörde CDC in Atlanta, lapidar befunden, dass sie nicht genügend Hinweise für eine Übertragung auf den Menschen hätten.
Immerhin ist es jedoch Wissenschaftlern im Labor bereits gelungen, menschliche Eiweiße mit Hilfe von CWD-Prionen in die pathologische Form zu verwandeln. Das könnte durchaus bedeuten, dass die Seuche auch für Menschen ansteckend sein kann.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO rät vorsorglich davon ab, Fleisch von CWD-kranken Tieren zu essen. US-Behörden empfehlen Jägern, sich beim Zerlegen der Körper Latex-Handschuhe überzustreifen. Köpfe samt Geweihen sind in vielen Bundesstaaten bei staatlichen Testern abzugeben - Fehlanzeige für Trophäenjäger. In weiten Teilen des Landes wird jetzt mit einer schwachen Jagdsaison gerechnet. Der Schaden an entgangenen Lizenzeinnahmen geht in die Millionen.
Die Jagdindustrie selbst ist offenbar ein Hauptschuldiger an der Ausbreitung der Seuche. Seit 1967 ist CWD bekannt, und lange Zeit blieb die äußerst seltene Krankheit auf ein Gebiet um den Nordosten Colorados beschränkt. Erst in den letzten Jahren kam der Seuchenzug in Fahrt. Im Februar wurden in Wisconsin erstmals Gehirne dreier Weißwedelhirsche positiv getestet, 1300 Kilometer entfernt vom nächsten Seuchenherd.
Wie also kam die Krankheit dorthin? In den vergangenen Jahren sind Hunderte Hirsch-Farmen gegründet worden. Die Betreiber verkaufen das Fleisch der Tiere und das so genannte weiche Geweih, das Jungtieren im Frühjahr abgeschnitten wird. Zu Pulver zermahlen ist es Gold wert auf dem asiatischen Markt für Aphrodisiaka. Vor allem aber leben die Hirsch-Farmer vom Jagd-Tourismus.
In manchen Betrieben kann sich ein Jäger den Rothirsch, den er schießen will, im Katalog aussuchen. Manche bieten Jagd-Komfort wie bei Honecker: Sie treiben die Tiere den Schützen direkt vor die Büchse. In anderen Betrieben wird das Wild immerhin in große Jagdgehege entlassen.
Rothirsch-Züchter handeln mit ihren Tieren ebenso wie Rinder-Züchter. Die vielen Tiertransporte zwischen Hirsch-Farmen gelten jetzt als wahrscheinlichste Ursache dafür, dass Hirschwahn in immer mehr Bundesstaaten auftaucht.
Jäger haben der Seuche aber auch sonst Vorschub geleistet. Oft schießen sie ein Tier, fahren mit ihm stundenlang nach Hause, zerlegen es dort und entledigen sich der Überreste im nächsten Wald. Durch diese Form der Kadaver-Entsorgung erobern sich die CWD-Prionen immer neue Gegenden: Sogar der Boden selbst, darauf deuten Experimente aus Colorado hin, bleibt jahrelang infektiös.
Quelle <a href="http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,209178,00.html]spiegel.de</a>
diesen Artikel kommentiere ich jetzt noch nicht, den lass ich erstmal wirken....
Von Nase zu Nase
Hat der Rinderwahn die Steak-Nation erreicht?
Hirsche in den USA gehen an einer BSE-artigen Hirnseuche zu Grunde. Nun gibt es Tote auch unter Jägern.
Nachts schleichen Hobbyjäger und staatlich bestellte Scharfschützen durchs Gestrüpp. Sie sollen nicht einfach töten - sie sollen ausrotten. Ihr Auftrag lautet, möglichst alle Weißwedelhirsche in einer Gegend im Süden des US-Bundesstaates Wisconsin bis Ende des Jahres zur Strecke zu bringen; über 25.000 Tiere müssen sterben. Die Kadaver werden verbrannt.
Solche Schlachtszenen hat es in Wisconsin seit ewigen Zeiten nicht gegeben. "Es ist wie im Krieg", sagt Anwohner Ross Reinhold. Er lebt zwar ziemlich privat auf eigenen 40.000 Quadratmeter Land; aber selbst dort fürchtet er um die Sicherheit seiner Enkel und seines Hundes.
Normalerweise ist die Jagdzeit im November, wenn die Bäume kein Laub mehr tragen und die Hirsche im Schnee leicht auffallen. Jetzt aber kommen die Jäger schon im Sommer, wo sie kaum etwas sehen und nur schwer zwischen Freund und Feind unterscheiden können.
Mit dem Hirsch-Gemetzel versuchen Veterinäre die Seuche CWD (Chronic Wasting Disease) aufzuhalten, die sich in den letzten Monaten unter Hirschen dramatisch ausgeweitet hat. Neun US-Bundesstaaten und zwei Provinzen von Kanada sind schon betroffen. Infizierte Tiere magern nach jahrelanger Inkubationszeit ab, sie werden nervös und wirr, sie torkeln, und schließlich sterben sie vollkommen ausgezehrt.
Tierärzte, Jäger und Politiker sind alarmiert: In vielem gleicht CWD dem aus Europa bekannten Rinderwahn. Die Seuche zählt wie BSE zur Gruppe der "spongiformen Enzephalopathien", die das Gehirn ihrer Opfer schwammartig zersetzen. Auslöser von BSE wie CWD sind entartete Formen von bestimmten Eiweißen, "Prionen" genannt. Anders als BSE jedoch ist CWD offenbar hochgradig ansteckend: Womöglich hat schon Nasenkontakt durch einen Zaun bei Rothirschen ausgereicht, die Seuche von Hirsch-Farmen hinaus in die Wildnis zu tragen.
"Wir wissen sehr, sehr wenig", sagt Stanley Prusiner, Neurologe aus San Francisco, der für seine Prionen-These 1997 den Medizin-Nobelpreis bekam. Vollkommen unklar sind selbst die wichtigsten Fragen zu CWD: Kann die Seuche wie BSE weitere Artengrenzen überwinden? Sind die bisher BSE-freien Weiderinder der Steak-Nation in Gefahr? Kann Hirschwahn auf den Menschen überspringen?
Nachweislich kann BSE-verseuchtes Fleisch beim Menschen zu einer neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (nvCJK) führen. 115 Briten sind bisher daran gestorben, die meisten von ihnen waren, anders als die typischen Opfer der klassischen CJK-Variante, sehr jung.
Auch Doug McEwen war erst 30 Jahre alt, als er 1999 an CJK starb. Er war Jäger und stammte aus Utah, dem Nachbarstaat des CWD-Epizentrums Colorado. Zwei weitere junge Leute unter 30 sind zwischen 1997 und 2000 an der höchst seltenen CJK gestorben - ein Jäger und die Tochter eines Jägers. Sie alle hatten oft Wild gegessen, wie Forscher in der Fachzeitschrift "Archives of Neurology" kürzlich berichteten. Trotzdem haben die Autoren der Studie, Experten der Seuchenkontrollbehörde CDC in Atlanta, lapidar befunden, dass sie nicht genügend Hinweise für eine Übertragung auf den Menschen hätten.
Immerhin ist es jedoch Wissenschaftlern im Labor bereits gelungen, menschliche Eiweiße mit Hilfe von CWD-Prionen in die pathologische Form zu verwandeln. Das könnte durchaus bedeuten, dass die Seuche auch für Menschen ansteckend sein kann.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO rät vorsorglich davon ab, Fleisch von CWD-kranken Tieren zu essen. US-Behörden empfehlen Jägern, sich beim Zerlegen der Körper Latex-Handschuhe überzustreifen. Köpfe samt Geweihen sind in vielen Bundesstaaten bei staatlichen Testern abzugeben - Fehlanzeige für Trophäenjäger. In weiten Teilen des Landes wird jetzt mit einer schwachen Jagdsaison gerechnet. Der Schaden an entgangenen Lizenzeinnahmen geht in die Millionen.
Die Jagdindustrie selbst ist offenbar ein Hauptschuldiger an der Ausbreitung der Seuche. Seit 1967 ist CWD bekannt, und lange Zeit blieb die äußerst seltene Krankheit auf ein Gebiet um den Nordosten Colorados beschränkt. Erst in den letzten Jahren kam der Seuchenzug in Fahrt. Im Februar wurden in Wisconsin erstmals Gehirne dreier Weißwedelhirsche positiv getestet, 1300 Kilometer entfernt vom nächsten Seuchenherd.
Wie also kam die Krankheit dorthin? In den vergangenen Jahren sind Hunderte Hirsch-Farmen gegründet worden. Die Betreiber verkaufen das Fleisch der Tiere und das so genannte weiche Geweih, das Jungtieren im Frühjahr abgeschnitten wird. Zu Pulver zermahlen ist es Gold wert auf dem asiatischen Markt für Aphrodisiaka. Vor allem aber leben die Hirsch-Farmer vom Jagd-Tourismus.
In manchen Betrieben kann sich ein Jäger den Rothirsch, den er schießen will, im Katalog aussuchen. Manche bieten Jagd-Komfort wie bei Honecker: Sie treiben die Tiere den Schützen direkt vor die Büchse. In anderen Betrieben wird das Wild immerhin in große Jagdgehege entlassen.
Rothirsch-Züchter handeln mit ihren Tieren ebenso wie Rinder-Züchter. Die vielen Tiertransporte zwischen Hirsch-Farmen gelten jetzt als wahrscheinlichste Ursache dafür, dass Hirschwahn in immer mehr Bundesstaaten auftaucht.
Jäger haben der Seuche aber auch sonst Vorschub geleistet. Oft schießen sie ein Tier, fahren mit ihm stundenlang nach Hause, zerlegen es dort und entledigen sich der Überreste im nächsten Wald. Durch diese Form der Kadaver-Entsorgung erobern sich die CWD-Prionen immer neue Gegenden: Sogar der Boden selbst, darauf deuten Experimente aus Colorado hin, bleibt jahrelang infektiös.
Quelle <a href="http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,209178,00.html]spiegel.de</a>
diesen Artikel kommentiere ich jetzt noch nicht, den lass ich erstmal wirken....