Homer und die Zeit der „Lieder“
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Homer war für die Antike ein historischer Dichter der Frühzeit, der Verfasser von Ilias und Odyssee. Daneben schrieb man ihm u.a. auch Götterhymnen und ein nicht erhaltenes komisches Gedicht über einen Dummkopf namens Margites zu.

Er galt als der Dichter schlechthin und wurde als Autorität in allen Lebensfragen zitiert. Sieben oder mehr Städte streiten sich noch heute darum, den berühmten Mann Sohn ihrer Stadt nennen zu dürfen.

Insgesamt weiß man nichts Näheres über ihn als Person. Die Legende machte ihn letztlich zu einem blinden Sänger, der in Herrenhäusern oder an Fürstenhöfen seine Dichtungen vortrug. In hellenistischer Zeit behaupteten einige Philologen, Ilias und Odyssee könnten wegen inhaltlicher und vor allen sprachlicher Differenzen nicht vom selben Verfasser stammen.

Homer wurden schon in antiker Zeit verehrt, so berichtet Plutarch, daß man einst Alexander dem Großen ein Kästchen schenkte, das die Schätze und das Gepäck des Dareios zu registrieren hatte. Alexander fragte seine Freunde nun, was ihrer Meinung nach am ehesten einen Platz in diesem Kästchen verdiene. Die einen rieten dies, die anderen das, und da entschied er selber, er wolle die Ilias darin aufbewahren.

Herakleides Pontikos, ein Schüler des Aristoteles, berichtet, daß Alexander nach der Eroberung Ägyptens eine große und reichbevölkerte Stadt gründen und ihr seinen Namen geben wolle. Er hatte dafür auch nach den Plänen der Architekten das Gelände dafür schon abmessen und eingrenzen lassen, da hatte er im Schlaf ein wundersames Traumbild. Im Traum erschien ihm ein grauhaariger Mann von würdiger Erscheinung und dieser sprach den folgenden Vers:

Eine der Inseln liegt im wogenstürmenden Meere
Vor des Aigyptos Strome, die Menschen nennen sie Pharos.


Sofort stand Alexander auf und begab sich nach Pharos, das damals noch eine Insel war, und oberhalb der Kanobischen Nilmündung liegt. Als er nun die außerordentlich günstige Lage sah, sagte er, Homer sei einfach in allem zu bewundern, er sei auch noch ein äußerst kluger Baumeister. Lächeln

Der Name Homer steht vor allem für eine bis dahin unbekannte Stufe des Erzählens. Dem heutigen Menschen wird das Verständnis von Homer vor allem durch zwei Dinge erschwert: Die gehobene poetische Sprache, die heute als Medium fremd geworden ist und mehr als in irgendeiner anderen Zeit zu Parodien reizt.
Die Schwierigkeit beim Lesen kann überwunden werden, wenn man den prosaischen Sinn poetischer Formulierungen hinterfragt, also zum Beispiel statt „und er sprach die geflügelten Worte“ ein einfaches „er sagte“ liest, also Textpassagen in sogenannte Sinn-Chiffren zerlegt.
Das zweite Hindernis ist die epische Breite, das heißt die Vielfalt der einbezogenen Motive, die es dem Leser manchmal schwer machen, die Übersicht überhaupt zu behalten.

Ilias und Odysse sind Epen, d.h. längere erzählende Versdichtungen. Die Titel Ilias und Odyssee waren schon früh in der Antike üblich, aber sie stammen wahrscheinlich nicht von Homer, sondern sind nachträglich – von Bibliothekaren – erfunden worden.

Ilias bedeutet Ilion-Dichtung oder Ilion-Erzählung (Ilion oder Ilios ist ein anderer Name für Troja). Das hat zu dem heute verbreitetem Irrglauben geführt, darin werde der Trojanische Krieg erzählt. Tatsächlich kommen der eigentliche Krieg und die Eroberung Trojas in der Ilias nicht vor, sondern in ihr geht es nur um eine Episode am Beginn des zehnten Kriegsjahres nämlich den „Zorn Achills“. Achill war mit seinem Oberfeldherrn Agamemnon in Streit geraten und hatte sich daraufhin verärgert vom Kampf zurückgezogen. Die Griechen gerieten deswegen in große Schwierigkeiten, bis er wieder bereit war mitzukämpfen.
Der Titel Odyssee ist dagegen genauer, wenn man darunter nicht die Lebensgeschichte des Odysseus versteht, sondern seine Heimfahrt, d.h. seine Rückkehr von Troja in seine Heimat Ithaka. Der eigentliche Titel steckt auch hier im ersten Vers und müßte lauten „Der vielumhergetriebene Mann“ oder „Der Irrfahrer“. Odysseus brauchte zehn Jahre, um von Troja in seine Heimat Ithaka zurückzukommen.

Es wäre unlogisch anzunehmen, daß nicht schon vor Homer Geschichten erzählt wurden, wie zum Beispiel von Großmüttern oder Ammen, und vermutlich gab es sogar professionelle Prosaerzähler. Eine besondere Form professionellen Erzählens ist das „Singen“ von Geschichten, das bei Homer vorkommt.

Aus der Odyssee kennt man den „Sänger“ als feste Institution, der zur Phorminx, einem antiken Saiteninstrument, erzählende Lieder vorträgt. Sein Singen, so wird heute angenommen, kann nur ein rhythmisierter Sprechgesang gewesen sein, denn ein Sänger wird bei Homer nie wegen seiner schönen Stimme oder wegen der schönen Musik gelobt, sondern nur wegen der Geschichten, die er weiß und vorzutragen versteht.

Vom späteren „Rhapsoden“ unterscheidet er sich dadurch, daß er zugleich als Autor dieser Geschichten galt und nicht als reproduzierender Vortragskünstler.
Eben das bewunderte man an ihm: Er kannte viele alte Geschichten, aber er hatte die Freiheit, sie kreativ auszugestalten und ihnen seine persönliche Form zu geben. Darüber hinaus erwartete man von ihm, daß er auch neue und neueste Geschichten erzählen konnte, d.h. ein „Lied“ über Ereignisse, von denen man erst kürzlich erfahren hatte, erfinden konnte. Dabei mußte er wahrscheinlich auch speziellen Wünschen des Publikums spontan improvisierend entsprechen können. Da der Sänger sein Publikum direkt vor sich hatte, konnten seine Lieder eine gewisse Länge nicht überschreiten. Er konnte von einer längeren Geschichte wie dem „Trojanischen Krieg“ also nur Ausschnitte oder einzelne Episoden vortragen.

Die Sänger, die bei Homer in der Odyssee vorkommen, tragen ihre Lieder in Herrenhäusern vor, beim Phäakenkönig Alkinoos und im Hause des abwesenden Herrn von Itaka. Wie weit diese Tradition der Lieder zurückreicht, weiß man heute nicht mehr. Sie könnte schon, so vermutet man, in der mykenischen Zeit (1.500 – 1.200 v.d.Z) bestanden haben und bei Homer (750 – 700 v.d.Z.) vorausgesetzt werden.

Da es sich um mündlich tradierte Lieder handelte, war das eine ständig bewegte Masse zwischen Entstehen und Vergessenwerden. Aber es nicht auszuschließen, daß poetische Motive und wörtliche Floskeln über Jahrhunderte hin bis in die Zeit Homers erhalten blieben.

Manche dieser Lieder scheinen schon lange vor Homer dauerhauft berühmt und allgemein bekannt gewesen zu sein. Das Publikum wollte sie immer wieder hören und kannte sie vielleicht sogar selbst mehr oder weniger auswendig und konnte sie eventuell selbst vortragen. In der Ilias vertreibt der „Dilettant“ (d.h. Nicht-Sänger) Achill sich und seinem Freund Patroklos die Zeit mit dem Vortrag solcher Lieder. Vor Homer dürfte es also bereits einen gewissen festen Bestand an solchen Liedern gegeben haben.
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