24.09.12004, 22:58
VISIONS, Nov. 02
Die Rückkehr der Amerika
Wohin fällt der Mensch, wenn er am Boden liegt? Was fürchtet die Welt noch, wenn der Tod die beste TV-Sendezeit abonniert hat? Was folgt nach dem Ende einer Idee namens Amerika? Fragen, die sich nach dem 11. September nicht nur Tori Amos gestellt hat.
Wohin die Reise auch geht - sie hat definitv begonnen. Toris neues Album Scarlet Walks ist eine Reise in die Vergangenheit für Amerika und Tori Amos selbst. Für beide beginnt sie am Ground Zero und für beide endet sie - ginge es nach ihr - an einem besseren Ort:
"Im September letzten Jahres waren wir in Amerika auf Tournee. Nach dem, was in New York passierte, wurden zahllose Events abgesagt. Die wenigsten Künstler wollten weiter auftreten. Es war, als würde ein ganzes Land seine Rollladen runterlassen. Wir bekamen in diesen Tagen eine Menge E-Mails. Die Leute baten uns, die Tour fortzusetzen. Es gab kaum Orte, an denen man sich treffen konnte, um auf andere Gedanken zu kommen und Kontakte zu knüpfen. Also gingen wir wieder auf Tour."
Vielleicht spielte Glassjaws Daryl Palumbo kürzlich auf diesen Wesenszug der Frau mit den Feuerhaaren an, als er ihr bescheinigte, die härteste Musik der Welt zu machen. Immerhin blieben Pantera nach dem 11. September daheim in Texas ...
..."A girl called Scarlet who may be the land and may be a person and may be a trail of blood" - diese Worte im Booklet von Scarlet Walks fassen zusammen, daß hier eine Geschichte auf zwei Ebenen erzählt wird. Mindestens. Da gibt es personifizierte Darsteller, mehr oder minder reale Begegnungen auf erwähnter Tournee durch das Post-9. 11-Amerika. All das ist jedoch in einem Bühnenbild, welches die geistige Verfassung der (westlichen) Menschen in den letzten zwölf Monaten reflektiert. Das Besondere daran? Die Handlungsstränge sind im Großen wie im Kleinen dieselben. Tori betont, das neue Album sei ein Geschenk an Amerika, an die Amerika wohlgemerkt, nicht an die Nation, die man mit dem Namen `Amerika` assoziiere:
"Amerika brauchte dieses Album. Ich habe die Amerika personifiziert, sie zu einem Wesen, einer Entität werden lassen. Am 11. September war ich selbst in New York. Danach begann meine Reise von L.A. durch die USA, die den Einfluß dieses Tages auf unterschiedlichste Weise reflektiert hat. Die Menschen reagierten abhängig von ihrer Kultur und ihren Erfahrungen auf diesen Tag. Doch ihnen allem gemeinsam war das Bewußtsein über die `Amerika`, die plötzlich wieder als ein Wesen wahrgenommen wurde, nicht als ein Objekt, das ein Land benennt. Amerika war plötzlich wieder mehr als die sogenannten Repräsentanten dieses Wesens, die wir Politiker nennen. Repräsentanten, die die Seele der Amerika nicht würdig vertreten, weil sie in ihrem Namen Geschäfte machen. Der 11. September hat den Sinn der Amerikaner für das wahre Wesen der Amerika wieder geöffnet, denn ihr falsches Abbild wurde innerhalb kürzester Zeit zerstört."
Der b*blisch anmutende Symbolismus liegt scheinbar doch in der Familie Amos, auch wenn Tori als Tochter eines Met**distenpredigers nicht die besten Erfahrungen mit sogenannten `Chr**ten` hinter sich hat. Tori will die Aussage jedoch lieber in ihrer psychologischen Konsequenz gedeutet sehen:
"Wenn man einen Verlust erleidet, gibt es immer auch eine Gelegenheit für eine Reise, für die Suche nach etwas. Manche Leute suchten ganz konkret nach ihren geliebten Menschen in den Trümmern, andere suchten Antworten auf die in Frage gestellte Idee der Beständigkeit der Dinge. Wenn etwas sehr Stabiles von einem Tag auf den anderen verschwindet, zieht das eine Wirkung nach sich."
Gab es nebenbei auch noch persönliche Gründe, die eigene Heimat von West nach Ost zu bereisen? Die Umstände, unter denen Tori Amerika vor einigen Jahren verließ - darunter militante Religionsfanatiker, die sie bedrohten - sind doch sicher auch eine offene Rechnung mit der Vergangenheit.
Tori stimmt zu: "Ja, Meister Balkensepp würde vor ihnen zurückschrecken (lacht). Ich habe so viel Blut meiner Mütter in mir, daß auch ich zu ihnen zurückkehren mußte. Die Seele der Amerika ist ja auch in mir. Aber das ist genau der Punkt. Der Blick in die Vergangenheit bleibt keinem erspart. Auch den Bewohnern der Amerika nicht. Amerika ist so viel mehr als seine Ideale. Es ist mehr als dieses furchteinflößende Ding, zu dem es in den letzten Jahrhunderten geworden ist. Die Ideale Amerikas sind an nur einem Tag schlagartig in Frage gestellt worden. Die Iren zum Beispiel haben eine sehr starke Beziehung zu ihrem Land. Amerikaner haben diese Beziehung nur zu der Ideologie, die das Vakuum ihrer fehlenden Identität im Laufe der Zeit füllen mußte. Nun ist der Blick darauf frei, und etwas anderes kann das Vakuum füllen."
Was könnte das im besten Fall sein? Fernsehen, Dollars und Kriegsführung haben offensichtlich nicht gereicht.
"Die Indianer haben lange Zeit die Schätze der Amerika gehütet. Sie sind ihre Wurzeln. Man hat die Indianer nicht integriert, Abmachungen wurden nicht eingehalten - das ist die Übereinkunft, auf der das heutige Amerika gegründet ist. Die Geschichte Amerikas zeigt, daß sie mit dem Blut ihrer Ureinwohner geschrieben wurde. Wenn wirklich eine Heilung Amerikas stattfinden sollte, wenn man den Status der Supermacht im Sinne einer verantwortungsvollen Nation rechtfertigen möchte, dann muß man auf das schauen, was Amerika einmal war. Der Betrug wirkt von innen, er betrifft das Leben jedes amerikanischen Bürgers.
Denn alles beruht letztlich auf dem stillen Einverständnis darüber, Versprechen zu brechen. Wir können unsere Augen nicht länger davor verschließen. Die Amerika hat eine große Spiritualität in sich. Wir sollten sie jetzt wiederentdecken."
Der Schritt zurück als der Weg in die Zukunft. Anekdotisch wird diese Rückkehr zum Selbst immer wieder als Thema der Texte auf Scarlet Walks aufgegriffen, allen voran im ersten Song Amber Waves. In Anspielung auf die gleichnamige Grand Dame of Porn aus dem Steifen Boogie Nights erzählt Tori hier den von familiärer Gewalt und kranken Beziehungen gezeichneten Weg einer Frau ins Pornobusiness. Das Storyboard ist das gleiche wie das der Amerika, die die Trümmer ihrer selbst aufsammeln muß, um zu ihrer Ganzheit zurückzufinden:
"Diese Frau erzählte, es sei eine Seite von ihr in dem Film zu sehen, die mit ihrem Selbst nichts zu tun hatte. Gewalt und Mißbrauch war sie gewohnt, weil sie ein Leben lang damit aufgewachsen war. Irgendwann gerät sie schließlich an den Punkt, an dem sie nicht länger getrennt von sich selbst leben kann. Sie muß an alle Orte zurückkehren, an denen noch Teile von ihr herumliegen, diese aufsammeln und integrieren, wenn sie vollständig sein möchte."
In der Essenz erzählt uns Tori Amos damit ein weises Märchen, deren Protagonistin eine Frau namens Scarlet, sie selbst, jeder oder ein Land sein kann.
Martin Iordanidis
Mir kam beim Lesen gleich Daphnee in den Sinn.
*inalexisrufeneinstimmt*
Die Rückkehr der Amerika
Wohin fällt der Mensch, wenn er am Boden liegt? Was fürchtet die Welt noch, wenn der Tod die beste TV-Sendezeit abonniert hat? Was folgt nach dem Ende einer Idee namens Amerika? Fragen, die sich nach dem 11. September nicht nur Tori Amos gestellt hat.
Wohin die Reise auch geht - sie hat definitv begonnen. Toris neues Album Scarlet Walks ist eine Reise in die Vergangenheit für Amerika und Tori Amos selbst. Für beide beginnt sie am Ground Zero und für beide endet sie - ginge es nach ihr - an einem besseren Ort:
"Im September letzten Jahres waren wir in Amerika auf Tournee. Nach dem, was in New York passierte, wurden zahllose Events abgesagt. Die wenigsten Künstler wollten weiter auftreten. Es war, als würde ein ganzes Land seine Rollladen runterlassen. Wir bekamen in diesen Tagen eine Menge E-Mails. Die Leute baten uns, die Tour fortzusetzen. Es gab kaum Orte, an denen man sich treffen konnte, um auf andere Gedanken zu kommen und Kontakte zu knüpfen. Also gingen wir wieder auf Tour."
Vielleicht spielte Glassjaws Daryl Palumbo kürzlich auf diesen Wesenszug der Frau mit den Feuerhaaren an, als er ihr bescheinigte, die härteste Musik der Welt zu machen. Immerhin blieben Pantera nach dem 11. September daheim in Texas ...
..."A girl called Scarlet who may be the land and may be a person and may be a trail of blood" - diese Worte im Booklet von Scarlet Walks fassen zusammen, daß hier eine Geschichte auf zwei Ebenen erzählt wird. Mindestens. Da gibt es personifizierte Darsteller, mehr oder minder reale Begegnungen auf erwähnter Tournee durch das Post-9. 11-Amerika. All das ist jedoch in einem Bühnenbild, welches die geistige Verfassung der (westlichen) Menschen in den letzten zwölf Monaten reflektiert. Das Besondere daran? Die Handlungsstränge sind im Großen wie im Kleinen dieselben. Tori betont, das neue Album sei ein Geschenk an Amerika, an die Amerika wohlgemerkt, nicht an die Nation, die man mit dem Namen `Amerika` assoziiere:
"Amerika brauchte dieses Album. Ich habe die Amerika personifiziert, sie zu einem Wesen, einer Entität werden lassen. Am 11. September war ich selbst in New York. Danach begann meine Reise von L.A. durch die USA, die den Einfluß dieses Tages auf unterschiedlichste Weise reflektiert hat. Die Menschen reagierten abhängig von ihrer Kultur und ihren Erfahrungen auf diesen Tag. Doch ihnen allem gemeinsam war das Bewußtsein über die `Amerika`, die plötzlich wieder als ein Wesen wahrgenommen wurde, nicht als ein Objekt, das ein Land benennt. Amerika war plötzlich wieder mehr als die sogenannten Repräsentanten dieses Wesens, die wir Politiker nennen. Repräsentanten, die die Seele der Amerika nicht würdig vertreten, weil sie in ihrem Namen Geschäfte machen. Der 11. September hat den Sinn der Amerikaner für das wahre Wesen der Amerika wieder geöffnet, denn ihr falsches Abbild wurde innerhalb kürzester Zeit zerstört."
Der b*blisch anmutende Symbolismus liegt scheinbar doch in der Familie Amos, auch wenn Tori als Tochter eines Met**distenpredigers nicht die besten Erfahrungen mit sogenannten `Chr**ten` hinter sich hat. Tori will die Aussage jedoch lieber in ihrer psychologischen Konsequenz gedeutet sehen:
"Wenn man einen Verlust erleidet, gibt es immer auch eine Gelegenheit für eine Reise, für die Suche nach etwas. Manche Leute suchten ganz konkret nach ihren geliebten Menschen in den Trümmern, andere suchten Antworten auf die in Frage gestellte Idee der Beständigkeit der Dinge. Wenn etwas sehr Stabiles von einem Tag auf den anderen verschwindet, zieht das eine Wirkung nach sich."
Gab es nebenbei auch noch persönliche Gründe, die eigene Heimat von West nach Ost zu bereisen? Die Umstände, unter denen Tori Amerika vor einigen Jahren verließ - darunter militante Religionsfanatiker, die sie bedrohten - sind doch sicher auch eine offene Rechnung mit der Vergangenheit.
Tori stimmt zu: "Ja, Meister Balkensepp würde vor ihnen zurückschrecken (lacht). Ich habe so viel Blut meiner Mütter in mir, daß auch ich zu ihnen zurückkehren mußte. Die Seele der Amerika ist ja auch in mir. Aber das ist genau der Punkt. Der Blick in die Vergangenheit bleibt keinem erspart. Auch den Bewohnern der Amerika nicht. Amerika ist so viel mehr als seine Ideale. Es ist mehr als dieses furchteinflößende Ding, zu dem es in den letzten Jahrhunderten geworden ist. Die Ideale Amerikas sind an nur einem Tag schlagartig in Frage gestellt worden. Die Iren zum Beispiel haben eine sehr starke Beziehung zu ihrem Land. Amerikaner haben diese Beziehung nur zu der Ideologie, die das Vakuum ihrer fehlenden Identität im Laufe der Zeit füllen mußte. Nun ist der Blick darauf frei, und etwas anderes kann das Vakuum füllen."
Was könnte das im besten Fall sein? Fernsehen, Dollars und Kriegsführung haben offensichtlich nicht gereicht.
"Die Indianer haben lange Zeit die Schätze der Amerika gehütet. Sie sind ihre Wurzeln. Man hat die Indianer nicht integriert, Abmachungen wurden nicht eingehalten - das ist die Übereinkunft, auf der das heutige Amerika gegründet ist. Die Geschichte Amerikas zeigt, daß sie mit dem Blut ihrer Ureinwohner geschrieben wurde. Wenn wirklich eine Heilung Amerikas stattfinden sollte, wenn man den Status der Supermacht im Sinne einer verantwortungsvollen Nation rechtfertigen möchte, dann muß man auf das schauen, was Amerika einmal war. Der Betrug wirkt von innen, er betrifft das Leben jedes amerikanischen Bürgers.
Denn alles beruht letztlich auf dem stillen Einverständnis darüber, Versprechen zu brechen. Wir können unsere Augen nicht länger davor verschließen. Die Amerika hat eine große Spiritualität in sich. Wir sollten sie jetzt wiederentdecken."
Der Schritt zurück als der Weg in die Zukunft. Anekdotisch wird diese Rückkehr zum Selbst immer wieder als Thema der Texte auf Scarlet Walks aufgegriffen, allen voran im ersten Song Amber Waves. In Anspielung auf die gleichnamige Grand Dame of Porn aus dem Steifen Boogie Nights erzählt Tori hier den von familiärer Gewalt und kranken Beziehungen gezeichneten Weg einer Frau ins Pornobusiness. Das Storyboard ist das gleiche wie das der Amerika, die die Trümmer ihrer selbst aufsammeln muß, um zu ihrer Ganzheit zurückzufinden:
"Diese Frau erzählte, es sei eine Seite von ihr in dem Film zu sehen, die mit ihrem Selbst nichts zu tun hatte. Gewalt und Mißbrauch war sie gewohnt, weil sie ein Leben lang damit aufgewachsen war. Irgendwann gerät sie schließlich an den Punkt, an dem sie nicht länger getrennt von sich selbst leben kann. Sie muß an alle Orte zurückkehren, an denen noch Teile von ihr herumliegen, diese aufsammeln und integrieren, wenn sie vollständig sein möchte."
In der Essenz erzählt uns Tori Amos damit ein weises Märchen, deren Protagonistin eine Frau namens Scarlet, sie selbst, jeder oder ein Land sein kann.
Martin Iordanidis
Mir kam beim Lesen gleich Daphnee in den Sinn.
*inalexisrufeneinstimmt*