Bayreuth 2
#7
Fast am Ende dieses neuen Bayreuther »Lohengrin», wenn der Titelheld Abschied nehmen muß von seiner gescheiterten Mission unter den Menschen und mit der Gralserzählung das Rätsel seiner Herkunft enthüllt, prangt in Hans Neuenfels' Inszenierung ein riesiges Fragezeichen am Bühnenhintergrund. Es wird, sobald der Schwanenritter seinen Namen nennt, abgelöst durch ein ebenso großes Ausrufezeichen.

Dieser nahtlose Übergang von Frage und Antwort ist, angesichts der soeben zu Ende gehenden drei Akte des »Lohengrin», ebenso eine kühne Behauptung wie ein Armutszeugnis.

Der 68er und inzwischen 69-jährige Altmeister des Regietheaters, der mit dieser Neuinszenierung – seiner ersten am Grünen Hügel – am Sonntag die 99. Bayreuther Festspiele eröffnete, hat mit den gleichen Problemen des »Lohengrin» zu kämpfen wie andere Regisseure vor ihm auch. Denn in Wagners Oper prallt ein märchenhafter Schwanenritter auf die sehr irdische, von einem Nachfolgestreit gespaltene Gesellschaft der Brabanter. Indem er Elsa, eine der Parteien dieses Streits, verteidigt und ehelicht, wird er zugleich zum Führer der Brabanter in König Heinrichs Kampf gegen die Ungarn. Das könnte man ein astreines Wunder nennen, aber es wird zerstört, weil Elsa – auf Betreiben ihres Widersachers Telramund und dessen Frau Ortrud – Lohengrins Verbot mißacht, ihn niemals zu fragen, wer er ist und woher er kommt.

Zwei Welten, die nicht zusammenpassen, ein gottgesandtes Wesen, das sich nach irdischer Liebe sehnt – so etwas hat man früher mal als Märchen mit Ritterrüstung und Schwanenromantik zeigen können, heute dagegen setzen die Regisseure auf Distanzierung: Stefan Herheim entlarvte die Oper in Berlin als von Richard Wagner gesteuerte Illusionsmaschinerie, Peter Konwitschny ließ in Hamburg zwei Schulklassen aufeinander los, Michael Simon nahm in Nürnberg in emotionslosem Puppentheater Zuflucht, und Richard Jones machte jüngst in München daraus ein allzu simples Beziehungsdrama um den Bau eines Einfamilienhauses.

Der 68er Hans Neuenfels, bekannt für seine psychologisch durchtränkten, surrealen Bildchiffren, packt die Geschichte dagegen in ein Labor, einen klinisch-weißen, grell ausgeleuchteten Raum, in dem rätselhafte und beunruhigende Dinge geschehen. Denn die Brabanter und König Heinrichs Gefolgschaft haben sich allesamt in Ratten verwandelt, der Herrscher selbst wirkt mit schwarzer Pappkrone auf dem Kopf ziemlich desorientiert, und dem Heerrufer stehen die Haare zu Berge wie in einem frühen David-Lynch-Film. Zudem werden all diese Wesen von Pflegern in Ganzkörper-Schutzanzügen herumbugsiert und gesteuert.

Welches Experiment findet hier statt, und wer leitet es? Befremdlich auch, daß ein ziemlich normal wirkender, schlicht gekleideter junger Mann schon im Vorspiel Einlaß begehrt in diese hermetische Welt und daß Elsa Schmerzenspfeile in ihrem Rücken stecken hat wie der verrückte Heilige Sebastian.

All das passiert im ersten Akt, und Neuenfels »Lohengrin» fesselt hier durchaus, nicht zuletzt dank der Ratten: Zu krallenartig verlängerten Füßen und Händen tragen die Chorsänger Ganzkörperanzüge mit mächtigen Rattenschwänzen – und fechtmaskenartige Nagetierköpfe mit roten, manchmal blinkenden Augen (Kostüme und Bühne Reinhard von der Thannen).

Wenn Lohengrin ins Labor einzieht, schwebt hinter ihm ein Schwan in einem geöffnetem Sarg herein, der Chor hängt die Rattenkostüme an von der Decke hängende Haken; und weil es interessant aussieht, wenn diese nach oben gezogen werden, wiederholt Neuenfels später den gleichen Effekt nochmal.

Doch die optischen Reize bleiben ohne tiefere Resonanz. Will Neuenfels uns sagen, daß die Ratte den Mensch in der Masse symbolisiert? Und daß das Rattenhafte unserer Natur immer wieder durchbricht und eine Weiterentwicklung zum Besseren blockiert? Die Inszenierung entwickelt ihre Einfälle jedenfalls nicht weiter, die Ratten werden lediglich bunter: rosafarben etwa, oder mit farbigen Kleidchen und Hütchen bei der Hochzeit von Lohengrin und Elsa, die Telramund und Ortrud – vergeblich – verhindern wollen.

Beim Streit im Brautgemach, wenn Lohengrin und Elsa aneinander zerren und ihre unmögliche Liebe retten wollen, hat diese Inszenierung noch eine intensive Szene. Doch dem Betrachter dämmert allmählich, daß Neuenfels die alte Geschichte vom Schwanenritter zwar in ein neues (Ratten-)Gewand steckt, aber eben doch nur bebildert.

Das große Fragezeichen, das sich bald darauf in ein Ausrufezeichen verwandelt, ist nichts anderes als die kürzestmögliche Inhaltsangabe von Neuenfels' Botschaft. So stiehlt sich die Regie davon und läßt uns allein in einer desillusionierten grellen Welt, in der aus einem Ei ein häßlicher Embryo schlüpft. Soll das die Hoffnung der Zukunft sein? Bitte nicht. Auch der Sarg, der zuvor aus der Besucherritze des Ehebetts hochgefahren ist, zeigt, daß Neuenfels nicht mehr an die Botschaft der Liebe oder produktiver Gemeinschaft glauben kann.

Die tieftraurige, pessimistische Botschaft dieses »Lohengrin» fand kompetente Ausdeuter. Andris Nelsons, der 31-jährige lettische Dirigent, gelang bei seinem Bayreuth-Debüt eine gut austarierte, kammermusikalisch feine und lyrische behutsame Deutung der »Lohengrin»-Musik, bei der selbst die Trompetenfanfaren jedes Auftrumpfen mieden.

Jonas Kaufmann in der Titelrolle gab, ganz schlicht, einen flehenden, nach Liebe dürstenden Mann. Sein Tenor imponierte mit der bei ihm gewohnten Strahlkraft und dunklem Schmelz, doch in den leisen Passagen klang er oft brüchiger als sonst. Ganz anders Annette Dasch: Sie sang eine Elsa aus Fleisch und Blut, mit markanten tiefen Linien und viel Leidenschaft in den Höhen.

Evelyn Herlitzius schleuderte als Ortrud dagegen mit solch einer Schärfe ihre Spitzentöne heraus, als hätte sie einen Kompressor eingebaut. Hans-Joachim Ketelsen enttäuschte als Telramund mit zu viel Sprechgesang.

Einen überwiegend positiven Eindruck hinterließen Georg Zeppenfeld als König Heinrich und Samuel Youn als Heerrufer. Großartiges leisteten die von Eberhard Friedrich disponierten Chöre.

Daß sie trotz der unhandlichen Kostüme und der von ihnen abverlangten »rättischen» Bewegungsaktionen so konzentriert und beseelt singen konnten, ist das eigentliche Wunder dieses »Lohengrin».

Neuenfels empfing am Ende ein Buhgewitter, woraufhin sich die Festspielleiterinnen Eva Wagner-Pasquier und Katharina Wagner demonstrativ an seine Seite stellten. Für die übrigen Beteiligten gab es, bis auf Ausnahmen, reichlich Applaus.
Was man will – nicht was man wünscht – empfängt man.

Cosima Wagner
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[Kein Betreff] - von Paganlord - 01.08.12005, 13:57
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