23.04.12006, 14:02
Ein Brief an alle Jüngeren, die sich eine Welt ohne Mobiltelefon weder vorstellen können noch mögen.
Von Walter Schmidt
Hallo, ihr da, könnt ihr mal kurz das Telefonieren einstellen? Ich will euch nämlich von einer Zeit berichten, die euch fremd erscheinen wird. Es war eine Zeit ohne Funktelefon. Vielleicht werdet ihr sagen, was will der Alte uns da erzählen - eine Welt ohne Funktelefon, wer soll das glauben? Und doch, so war es.
Zugegeben, es war eine merkwürdige Zeit. Man nannte sie auch die siebziger Jahre. nehmen wir mal das Jahr 1974, weil auch damals Fußball WM auf deutschem Boden war. In jenem Jahr war unsereins neun - ein Alter, in dem heute nicht wenige Kinder schon ein Telefon haben. Hatte man Mitte der 70er Jahre Lust, einen Freund zu treffen, rief man ihn nicht an - nicht mal vom Festnetz-Anschluß aus, den die meisten Haushalte im Westen durchaus hatten, während er für viele DDR-Bürger unerreichbarer Luxus war. Telefonieren wäre schon deshalb nicht ohne weiteres gegangen, weil man die Nummer des Freundes gar nicht kannte. Doch jemanden anzurufen, der höchstens einen Kilometer entfernt bei seinen Eltern wohnte, bloß um ihn zum mitspielen zu bewegen, war einfach nicht drin. Damals - und das Wort klingt, als trüge es einen eisgrauen Bart - mußte man, nun ja, das klingt für euch jetzt sicher komisch: Nun man mußte hinfahren.
Man nahm also sein Fahrrad und fuhr nachschauen, ob dieser Uwe oder Bernd oder Thomas zu Hause war. Wenn nicht, flitzte er vielleicht selber mit dem Rad umher, immer auf der Suche nach Freunden - womöglich ja auf dem Bolzplatz am Fluß.
Also fuhr man auch dorthin. Meistens jedoch war Uwe da auch nicht. Also trat man erneut in die Pedale und fuhr auf den Sportplatz am anderen Ende des Ortes oder zu Manfred, Uwes besten Freund, oder eben zum Spielplatz, wo sich die Jungs auch manchmal zum Bolzen trafen.
Und so konnte es passieren, daß man den halben Nachmittag damit zubrachte, Uwe zu suchen. Oder eben Bernd - oft vergebens. Dafür traf man manchmal Ralf. Oder Michael. Die konnten auch Fußball spielen. Oder man stolperte im Ort über Onkel Franz und bekam ein Eis. Dann war der Tag gerettet. Nicht immer gelang das.
Ja, auch wir kannten Langeweile. Bisweilen brachte sie aber ganz brauchbare Ideen hervor: ein neues Abstellgleis auf der Modellbahnanlage, oder einen verwegenen Probeflug mit der Raumkapsel aus Bauklötzen. Und wenn uns garnichts einfiel, putzen wir halt das Fahrrad. Das war bloß entschieden weniger lustig.
Im Rückblick hat ein Drittel der Kindheit darin bestanden, uns Beschäftigung zu suchen. Dazu mußten wir uns bewegen. Vielleicht erklärt das zweierlei: Erstens war damals kein Kind überschuldet, weil es gar kein Funktelefon hatte. Und zweitens waren die Kinder weniger kurzatmig, weil sie ständig auf Achse waren - nicht wie in Mamas Stadt-Flitzer. Wir mußten viel zu Fuß gehen oder in Eile auch rennen, weil es keinen Zweitwagen gab, mit denen Mutti uns mal eben zum Sportplatz fahren konnte, auch nicht bei Regenwetter. Oft gab es auch keinen Erstwagen, selbst Papis fuhren Bus.
Wenn wir nicht gerade liefen, radelten wir viel in der Gegend herum, zur Not auch, weil das noch immer besser war, als zu Hause die manchmal ganz schön öden Plastikindianer anzustarren. Einen Computer zum Herumdaddeln hatten wir ja auch nicht, auch keinen eigenen Fernseher. Die Flimmerkiste der Eltern stand im Wohnzimmer und obendrein noch symbolisch unter Verschluß - bis auf Vorabend und den Sonntagnachmittag, wenn etwa "Die kleine Strolche" liefen.
Als wir ein paar Jahre älter waren und begannen, uns zu verabreden, da lernten wir, was es bedeutet, pünktlich sein zu müssen. Ihr könnt euch das vielleicht nicht vorstellen, was es heißt, nicht einfach mal eben anrufen oder eine SMS losjagen zu können, um irgendwo auszurichten, daß man später kommt - oder auch gar nicht.
Seinerzeit mußten die Menschen auf Bahnsteigen oft ahnungslos auf Bekannte in verspäteten Zügen warten, was den Vorteil hatte, daß sie auch leibhaftig da waren, wenn der Reisende schließlich ankam. Heute sind sie dann vielleicht immer noch zu Hause und warten erst mal auf den Anruf des Eingetroffenen, weil sie so glauben ihre Zeit sinnvoller nutzen zu können. Wer sich damals irgendwo im Grünen verabredet hatte, sagen wir: zu einer Wanderung, der hatte gar keine Chance, ein Verspäten anzukündigen oder eine Krankheit zu melden, die am Kommen hinderte. Also kam man manchmal zum Treffpunkt, obwohl man sich nicht sonderlich wohl fühlte oder gar keine echte Lust auf den Ausflug hatte. Manchmal wurde es dann trotzdem lustig.
Kann es sein, daß man so ein wenig Disziplin gelernt hat? Ist nur so eine Frage?
Damals bedeutete Pünktlichkeit, pünktlich zu sein - wobei wir hier nicht über Minuten reden. Heute gilt schon als pünktlich, wer rechtzeitig anruft und mitteilt, daß er zwei Stunden später oder gar nicht kommt ("Du ich fühl' mich grad nicht so..."). Was der versetzte dann damit anfängt, vor allem mit seiner plötzlich gewonnen Zeit, ist ihm überlassen. Damit vernehmlich zu hadern, gilt als unmodern.
So schön es ja ist, dieses Gefühl, mit allem und jedem ständig übers Telefon verbunden zu sein, so drängt sich einem manchmal die Frage auf: Was, liebe Kinder, würdet ihr denn ohne dieses kleine Gerät machen, auf das ihr euch ständig die neuesten Klingeltöne ladet? Ihr seht so versonnen aus, manchmal auch verbissen, wenn ihr mit flinken Fingern eure Kurzmitteilungen in winzig kleine Telefone tippt. Selbst im Kino, wenn der Film läuft, tuschelt und kichert ihr miteinander, wenn euer Schwarm sich an euer Herz heranpiept.
Kennt ihr eigentlich noch die Vorfreude aufs Erzählen von Dingen, die ihr erlebt habt, aber noch eine Weile - Tage, oder gar Wochen - in euren Herzen bei euch tragen müßt? Wenn ihr von Popkonzerten, Klassenfahrten oder aus dem Urlaub Schnappschüße über euer Telefon nach Hause verschickt - wer wartet dann noch auf euren Bericht? Oder auf Euch? Ihr seid ja immer schon da, auch wenn ihr weg seid.
Eure Welt kann unsereinem fremd sein. Wir kenne eben eine andere. Eine Welt, die manchmal umständlich war. Man wollte dringend einen dummen Streit glätten, doch man fand keine Groschen fürs Münztelefon, und wechseln konnte auch im Moment keiner. Man wollte die noch heimliche Freundin treffen, aber sie besaß kein eigenes Telefon, und wer abhob, war immer die Mutter. Man stand nachts an verlassenen Bushaltestellen und konnte niemanden anrufen, er möge einen abholen kommen - oder auch nur zum Plaudern und zum Vertreiben von Angst oder Einsamkeit.
Wer unterwegs oder länger auf Reise war, galt als unerreichbar. Heute ist es für Dienstreisende schon ein Luxus, wenn ihr Telefon mal eine Stunde lang ausgeschaltet bleiben darf.
Ob man den mobilen Kontaktspender ständig ein- oder auch mal tagelang ausgeschaltet lassen sollte, ist für euch aber längst keine Frage mehr, über die sich nachzudenken lohnt. Kein Wunder: Ihr sendet, also seid ihr - wer nicht online ist, findet nicht statt. Dabei sein ist alles, könntet ihr sagen, wenn ihr Funklöchern entronnen seid und am satten Empfangspegel eures Telefons seht, daß ihr wieder dazugehört. Drahtlos verbunden, manchmal auch kopflos.
Aber unsereiner hat gut reden.
(Übersetzt aus dem »Neudeutschen« von Saxorior)
Von Walter Schmidt
Hallo, ihr da, könnt ihr mal kurz das Telefonieren einstellen? Ich will euch nämlich von einer Zeit berichten, die euch fremd erscheinen wird. Es war eine Zeit ohne Funktelefon. Vielleicht werdet ihr sagen, was will der Alte uns da erzählen - eine Welt ohne Funktelefon, wer soll das glauben? Und doch, so war es.
Zugegeben, es war eine merkwürdige Zeit. Man nannte sie auch die siebziger Jahre. nehmen wir mal das Jahr 1974, weil auch damals Fußball WM auf deutschem Boden war. In jenem Jahr war unsereins neun - ein Alter, in dem heute nicht wenige Kinder schon ein Telefon haben. Hatte man Mitte der 70er Jahre Lust, einen Freund zu treffen, rief man ihn nicht an - nicht mal vom Festnetz-Anschluß aus, den die meisten Haushalte im Westen durchaus hatten, während er für viele DDR-Bürger unerreichbarer Luxus war. Telefonieren wäre schon deshalb nicht ohne weiteres gegangen, weil man die Nummer des Freundes gar nicht kannte. Doch jemanden anzurufen, der höchstens einen Kilometer entfernt bei seinen Eltern wohnte, bloß um ihn zum mitspielen zu bewegen, war einfach nicht drin. Damals - und das Wort klingt, als trüge es einen eisgrauen Bart - mußte man, nun ja, das klingt für euch jetzt sicher komisch: Nun man mußte hinfahren.
Man nahm also sein Fahrrad und fuhr nachschauen, ob dieser Uwe oder Bernd oder Thomas zu Hause war. Wenn nicht, flitzte er vielleicht selber mit dem Rad umher, immer auf der Suche nach Freunden - womöglich ja auf dem Bolzplatz am Fluß.
Also fuhr man auch dorthin. Meistens jedoch war Uwe da auch nicht. Also trat man erneut in die Pedale und fuhr auf den Sportplatz am anderen Ende des Ortes oder zu Manfred, Uwes besten Freund, oder eben zum Spielplatz, wo sich die Jungs auch manchmal zum Bolzen trafen.
Und so konnte es passieren, daß man den halben Nachmittag damit zubrachte, Uwe zu suchen. Oder eben Bernd - oft vergebens. Dafür traf man manchmal Ralf. Oder Michael. Die konnten auch Fußball spielen. Oder man stolperte im Ort über Onkel Franz und bekam ein Eis. Dann war der Tag gerettet. Nicht immer gelang das.
Ja, auch wir kannten Langeweile. Bisweilen brachte sie aber ganz brauchbare Ideen hervor: ein neues Abstellgleis auf der Modellbahnanlage, oder einen verwegenen Probeflug mit der Raumkapsel aus Bauklötzen. Und wenn uns garnichts einfiel, putzen wir halt das Fahrrad. Das war bloß entschieden weniger lustig.
Im Rückblick hat ein Drittel der Kindheit darin bestanden, uns Beschäftigung zu suchen. Dazu mußten wir uns bewegen. Vielleicht erklärt das zweierlei: Erstens war damals kein Kind überschuldet, weil es gar kein Funktelefon hatte. Und zweitens waren die Kinder weniger kurzatmig, weil sie ständig auf Achse waren - nicht wie in Mamas Stadt-Flitzer. Wir mußten viel zu Fuß gehen oder in Eile auch rennen, weil es keinen Zweitwagen gab, mit denen Mutti uns mal eben zum Sportplatz fahren konnte, auch nicht bei Regenwetter. Oft gab es auch keinen Erstwagen, selbst Papis fuhren Bus.
Wenn wir nicht gerade liefen, radelten wir viel in der Gegend herum, zur Not auch, weil das noch immer besser war, als zu Hause die manchmal ganz schön öden Plastikindianer anzustarren. Einen Computer zum Herumdaddeln hatten wir ja auch nicht, auch keinen eigenen Fernseher. Die Flimmerkiste der Eltern stand im Wohnzimmer und obendrein noch symbolisch unter Verschluß - bis auf Vorabend und den Sonntagnachmittag, wenn etwa "Die kleine Strolche" liefen.
Als wir ein paar Jahre älter waren und begannen, uns zu verabreden, da lernten wir, was es bedeutet, pünktlich sein zu müssen. Ihr könnt euch das vielleicht nicht vorstellen, was es heißt, nicht einfach mal eben anrufen oder eine SMS losjagen zu können, um irgendwo auszurichten, daß man später kommt - oder auch gar nicht.
Seinerzeit mußten die Menschen auf Bahnsteigen oft ahnungslos auf Bekannte in verspäteten Zügen warten, was den Vorteil hatte, daß sie auch leibhaftig da waren, wenn der Reisende schließlich ankam. Heute sind sie dann vielleicht immer noch zu Hause und warten erst mal auf den Anruf des Eingetroffenen, weil sie so glauben ihre Zeit sinnvoller nutzen zu können. Wer sich damals irgendwo im Grünen verabredet hatte, sagen wir: zu einer Wanderung, der hatte gar keine Chance, ein Verspäten anzukündigen oder eine Krankheit zu melden, die am Kommen hinderte. Also kam man manchmal zum Treffpunkt, obwohl man sich nicht sonderlich wohl fühlte oder gar keine echte Lust auf den Ausflug hatte. Manchmal wurde es dann trotzdem lustig.
Kann es sein, daß man so ein wenig Disziplin gelernt hat? Ist nur so eine Frage?
Damals bedeutete Pünktlichkeit, pünktlich zu sein - wobei wir hier nicht über Minuten reden. Heute gilt schon als pünktlich, wer rechtzeitig anruft und mitteilt, daß er zwei Stunden später oder gar nicht kommt ("Du ich fühl' mich grad nicht so..."). Was der versetzte dann damit anfängt, vor allem mit seiner plötzlich gewonnen Zeit, ist ihm überlassen. Damit vernehmlich zu hadern, gilt als unmodern.
So schön es ja ist, dieses Gefühl, mit allem und jedem ständig übers Telefon verbunden zu sein, so drängt sich einem manchmal die Frage auf: Was, liebe Kinder, würdet ihr denn ohne dieses kleine Gerät machen, auf das ihr euch ständig die neuesten Klingeltöne ladet? Ihr seht so versonnen aus, manchmal auch verbissen, wenn ihr mit flinken Fingern eure Kurzmitteilungen in winzig kleine Telefone tippt. Selbst im Kino, wenn der Film läuft, tuschelt und kichert ihr miteinander, wenn euer Schwarm sich an euer Herz heranpiept.
Kennt ihr eigentlich noch die Vorfreude aufs Erzählen von Dingen, die ihr erlebt habt, aber noch eine Weile - Tage, oder gar Wochen - in euren Herzen bei euch tragen müßt? Wenn ihr von Popkonzerten, Klassenfahrten oder aus dem Urlaub Schnappschüße über euer Telefon nach Hause verschickt - wer wartet dann noch auf euren Bericht? Oder auf Euch? Ihr seid ja immer schon da, auch wenn ihr weg seid.
Eure Welt kann unsereinem fremd sein. Wir kenne eben eine andere. Eine Welt, die manchmal umständlich war. Man wollte dringend einen dummen Streit glätten, doch man fand keine Groschen fürs Münztelefon, und wechseln konnte auch im Moment keiner. Man wollte die noch heimliche Freundin treffen, aber sie besaß kein eigenes Telefon, und wer abhob, war immer die Mutter. Man stand nachts an verlassenen Bushaltestellen und konnte niemanden anrufen, er möge einen abholen kommen - oder auch nur zum Plaudern und zum Vertreiben von Angst oder Einsamkeit.
Wer unterwegs oder länger auf Reise war, galt als unerreichbar. Heute ist es für Dienstreisende schon ein Luxus, wenn ihr Telefon mal eine Stunde lang ausgeschaltet bleiben darf.
Ob man den mobilen Kontaktspender ständig ein- oder auch mal tagelang ausgeschaltet lassen sollte, ist für euch aber längst keine Frage mehr, über die sich nachzudenken lohnt. Kein Wunder: Ihr sendet, also seid ihr - wer nicht online ist, findet nicht statt. Dabei sein ist alles, könntet ihr sagen, wenn ihr Funklöchern entronnen seid und am satten Empfangspegel eures Telefons seht, daß ihr wieder dazugehört. Drahtlos verbunden, manchmal auch kopflos.
Aber unsereiner hat gut reden.
(Übersetzt aus dem »Neudeutschen« von Saxorior)
Lebe für Deine Ideale!