Die Götter Griechenlands
#17
ARACHNE - die Spinnerin

Vorzeiten lebte im Lande Lydien eine Jungfrau, die hieß Arachne; sie war einfacher Leute Kind, denn ihr Vater war nur ein Purpurfärber. Trotzdem hatte Arachnes Name in den Städten Lydiens einen guten Klang, dann sie war als kunstfertige Weberin hochberühmt. Selbst des Zeus liebliche Töchter, die Nymphen, die an den rebenbewachsenen Berghängen und auf dem Grunde der Flüsse wohnten, kehrten oft in der einfachen Behausung der Jungfrau ein, um sie bei ihrer Arbeit zu bewundern.

Wo sah man aber auch noch, so wie bei ihr, Kunstfertigkeit und Anmut vereinigt? Es war wirklich, als sei Pallas Athene selber, die Schirmherrin aller schönen Künste, ihre Lehrmeisterin gewesen. Aber als einst eine der Nymphen ihr solches Lob aussprach, da zeigt sich Arachne dadurch keineswegs geehrt. Nein, sie, die Sterbliche, war so stolz auf ihre Kunstfertigkeit, dass sie beleidigt auffuhr: "Nicht der Gottheit verdanke ich meine Kunst! Was ich vollbringe, das ist mein eigenes Verdienst!"

In ihrer Vermessenheit spottete sie der Göttin: "Wie soll Pallas Athene mir wohl Lehrmeisterin gewesen sein, da doch meine Kunst viel höher steht als die ihre? Wenn die Göttin es wagen sollte, so mag sie kommen und ihre Kunst mit mir messen!" Erschreckt blickten die Nymphen auf die verwegene Sterbliche. Aber Arachne blieb bei ihrer Hoffart: "Ja, sie mag sich mit mir im Wettkampfe messen! Dann wird sich zeigen, wer größere Kunstfertigkeit besitzt, sie oder ich! Und wenn sie mich je besiegen sollte, so will ich gern jede Strafe auf mich nehmen!"

Die Nymphen verließen entsetzt das Haus der Weberin, in dem sie so oft zu Gast gewesen waren. Wie konnten sie mit einer Sterblichen Umgang pflegen, die so vermessen alle menschlichen Grenzen überschritt! Trotzig setzte Arachne sich wieder an ihren Webstuhl. Da klopfte es an der Türe, und herein trat ein altes Weiblein im grauen Haar, den Rücken gebeugt und in den welken Händen einen Stab als Stütze. Aber aus ihren Augen leuchtete mütterliche Güte und warmes Verstehen für das verblendete Menschenkind; denn das alte Weiblein war niemand anders als die Göttin Athene selber, die in solcher Verwandlung die Hochfahrende zu bekehren gedachte: "Verachte meinen Rat nicht, junges Menschenkind!" mahnte sie mütterlich. "Groß ist dein Ruhm, dass du alle Sterblichen an Kunstfertigkeit übertriffst. Aber vor den Göttern weiche in Demut!"

Doch Arachne blieb unbelehrbar: "Die Jahre haben dir den Sinn geschwächt, Alte", entgegnete sie in hartem Spott. "Ich bedarf nicht deines Rates und verschmähe deine Ermahnung. Warum wagt die Göttin nicht selber zu mir zu kommen und sich mit mir im Wettstreite zu messen?" Da war Athenes Langmut zu Ende. "Sie ist schon da!" rief sie zornig und stand plötzlich als Himmelsgöttin vor der Irdischen.

Die lydischen Frauen, die im Raume waren, schrien gellend auf und warfen sich der Göttin zu Füßen. "Beharrst du auch jetzt noch auf deiner Herausforderung?" Aber Arachne ließ nicht von ihrem verwegenen Trotz. "So schlägst du Verblendete meine Warnung in den Wind?" sprach zürnend die Göttin. "Der Wettkampf soll entscheiden!" Getrennt stellten nun beide ihren Webstuhl auf und begannen die Arbeit. Kunstvoll mischten sie die vielfachen Farben und verwoben die goldenen Fäden, eilfertig flog das Weberschiffchen hin und zurück. Unter Athenes kunstreichen Händen erwuchs das Bild der Felsenburg Athens, die nach ihr den Namen trägt.

Zeus selber thronte dort in erhabenem Ernste inmitten von zwölf Göttern, daneben der Meeresfürst Poseidon, der mit seinem gewaltigen Dreizack aus dem Felsen den Wasserquell sprudeln ließ. Und dort war sie selbst, die göttliche Künstlerin, in kriegerischer Rüstung; vor die Brust hielt sie schützend die schreckliche Aigis, den Wunderschild mit dem Haupte Gorgo in der Mitte; staunend blickten die Götter auf Athenes wunderbares Schöpfungswerk, den blühenden Ölbaum, den ihr Speer aus dürrem Erdreich hervor treiben ließ.

Zur Warnung für die verwegene Nebenbuhlerin aber fügte die Göttin in die Ecken des Kunstwerkes vier Bilder, vier Beispiele menschlichen Hochmuts, dem die Rache der Götter ein trauriges Ende gesetzt hatte: Da sah man den König und die Königin von Thrakien, die sich in ihrem Aberwitz den Göttern gleichgestellt hatten. Des Göttervaters Strafe hatte sie in lebloses Gestein verwandelt. Da war das Schicksal der Mutter abgebildet, die wegen ihrer Vermessenheit in einen Kranich verwandelt worden war. Dort war das Schicksal der Jungfrau dargestellt, die sich an Schönheit mit der Göttermutter zu messen gewagt hatte und als Storch weiterleben musste. In der vierten Ecke zeigte das kunstvolle Gebilde das Los des unglückseligen König Kinyras, der die entschwundenen Töchter beweinte; hochfahren und verblendet hatten sie durch ihren Stolz den Zorn der Hera gereizt und waren von ihr in die Marmorstufen des Tempels verwandelt worden. Staunend standen die Zuschauer vor dem prächtigen Kunstwerk, das nur eine göttliche Hand vollbringen konnte.

Arachne zeigt sich in der Tat der hohen Kunst der Göttin ebenbürtig. Doch voll frevlerischer Leichtfertigkeit wählte sie Bilder für ihr Gewebe, die jede Ehrfurcht des Menschen den Göttern gegenüber verächtlich erscheinen musste, mit menschlichen Schwächen und ohne jede göttliche Hoheit. Wie konnte eine Erdgeborene es wagen, ihrem Bilde vom Vater der Götter solch einen Sinn zu geben? Was würde die Göttin zu solchem Werke sagen? Zornbebend stand Pallas Athene vor Arachnes Webstuhl. "Dass du eine Meisterin der Webkunst und selbst mir vergleichbar bist, will ich dir gerne zugestehen!" rief sie; "das Gebilde aus deiner Hand zeugt von deiner hohen Kunstfertigkeit, die alles Lob verdient. Und doch bist du nicht würdig, eine Meisterin zu heißen. Denn was dir mangelt, ist die Ehrfurcht. Schmach über jeden, der die Ehre seines Standes so gröblich missachtet und die Kunst, die die Gottheit ihm eingab, so hässlich missbraucht!"

Die Göttin zerriss in ihrem Zorne das schändliche Werk; Arachne wollte dazwischenfahren, doch da schlug Athene sie dreimal mit dem Weberschiffchen vor die Stirn. Die göttliche Strafe hatte sie getroffen, Wahnsinn packte die Unglückliche. Sie sprang vom Sitze auf, ihrem Leben ein Ende zu machen, doch da half ihr noch einmal das Mitleid der Göttin. "So magst du leben, du Hoffärtige, und weiter deiner Kunst dienen! Aber für alle Zeiten treffe dich die Strafe!" Dabei ließ sie der Jungfrau einige tropfen des göttlichen Zauberwassers ins Antlitz sprühen. Sogleich schwanden die Haare; Nase, Ohren und die ganze Gestalt schrumpften zusammen- ein winziges hässliches Tierchen blieb zurück, als die Göttin den Raum verließ. Als Spinne lebt Arachne fort und übt noch heute ihre Webkunst.

Entweder man findet einen Weg oder man schafft einen Weg!
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