Starke Frauen
#15
Aurelias erster Besuch bei ihren Schwiegereltern

Unter normalen Umständen zögerte Aurelia nicht lange, wenn es um die Wahl ihrer Kleider ging. Sie liebte leuchtende Farben und kombinierte sie gerne, und sie entschied ebenso schnell und ohne Umstände wie in allen anderen Dingen. Nachdem sie jedoch erfahren hatte, daß ihr Verlobter sie zu einem Besuch bei ihren zukünftigen Schwiegereltern abholen würde, zauderte sie. Schließlich wählte sie ein kirschfarbenes Unterkleid aus feiner Wolle, über das sie einen Überwurf aus rosenfarbener Wolle legte, fein genug, das Unterkleid durchschimmern zu lassen. Darüber legte sie einen zweiten Überwurf. Hellrosa und so fein wie ihr Hochzeitsschleier. Sie nahm ein Bad und parfümierte sich mit Rosenduft, doch das Haar wurde wie immer in einem schmucklosen Knoten zusammengefaßt, und den Vorschlag ihrer Mutter, ein wenig Rouge und Stibium aufzulegen, lehnte sie ab.

„Du bist zu blaß heute“, meinte Rutilia besorgt. „Das ist die Aufregung. Komm, versuche so gut wie möglich auszusehen, bitte! Nur einen Hauch Rouge auf die Wangen und eine zarte Linie um die Augen.“

„Nein“, sagte Aurelia entschieden.
Ihre Blässe spielte ohnehin keine Rolle, denn als der junge Gaius Julius Caesar kam, um sie abzuholen, nahm Aurelias Gesicht so viel Farbe an, wie ihre Mutter nur wünschen konnte.
„Gaius Julius“, sagte Aurelia und streckte ihm die Hand entgegen.
„Aurelia“, erwiderte er und nahm ihre Hand in seine.
Dann waren sie beide verlegen und wußten nicht, was sie tun sollten.
„Na, geht schon, auf Wiedersehen!“ sagte Rutilia gereizt. Es war ein seltsames Gefühl, das erste Kind an diesen ungemein gutaussehenden jungen Mann zu verlieren, wo sie sich selbst noch wie achtzehn fühlte.
Das Paar verließ das Haus, Cardixa und die beiden Gallier folgten ihnen.
„Ich sollte dich darauf vorbereiten, daß es meinem Vater nicht gut geht“, begann der junge Caesar, sichtlich um Fassung bemüht.
„Er hat ein bösartiges Geschwür in seiner Kehle, und wir fürchten alle, daß er nicht mehr lange unter uns sein wird.“
„Oh“, sagte Aurelia.
Sie bogen um die Ecke. „Als ich deine Nachricht erhielt“, sagte er, „suchte ich auf der Stelle Marcus Aurelius auf. Ich kann kaum glauben, daß du mich gewählt hast!“
„Ich kann kaum glauben, daß ich dich gefunden habe“, erwiderte sie.
„Meinst du, daß Publius Rutilius das absichtlich arrangiert hat?“
Aurelia mußte lächeln. „Ganz bestimmt.“
Sie gingen die Straße hinunter und bogen wieder um eine Ecke.
„Ich habe den Eindruck, du bist nicht sehr gesprächig“, bemühte sich der junge Caesar erneut, das Gespräch in Gang zu halten.
„Nein.“
Und das war ihre ganze Unterhaltung, bis sie zum Haus von Caesars Familie kamen.
Ein Blick auf die Braut seines Sohnes zerstreute Caesars Bedenken. Das war keine verwöhnte, anspruchsvolle Schönheit! Oh, was er gehört hatte, traf vollkommen zu, sie war außergewöhnlich schön, doch nicht in der üblichen Weise. Das, dachte er, war vermutlich der Grund, warum ihr nur der Zusatz „außergewöhnlich“ gerecht wurde. Was für wundervolle Kinder sie haben würden! Kinder, die er nicht mehr sehen würde.

„Setz dich, Aurelia.“ Seine Stimme war kaum hörbar, deshalb deutete er auf einen Stuhl neben sich, der ein Stück nach vornegerückt war, so daß er sie ansehen konnte. Sein Sohn setzte sich auf seine andere Seite.
Der alte Caesar berichtete Aurelia von der Unterredung, die Cotta und er über die Verwendung ihrer Mitgift geführt hatten.
„Dein Onkel und Vormund will Dir die Entscheidung überlassen. Möchtest Du lieber ein eigenes Haus oder ein Mietshaus?“
Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen, tun? Diesmal fand Aurelia die Antwort ohne langes Überlegen: Cornelia die Mutter der Graccen, würde sich für den ehrenhaften Weg entscheiden, egal wie hart er wäre. Nur ging es in ihrem Fall um die Ehre von zwei Personen, die ihres Liebsten und ihre eigene. Ein eigenes Anwesen wäre die bequemere und ihr vertrautere Lösung, aber es würde die Gefühle ihres Liebsten verletzen, wenn er in einem Haus wohnen mußte, das vom Geld seiner Frau gekauft worden war.
Sie wandte ihren Blick von Caesar ab und schaute seinen Sohn an. „Was wäre dir lieber“, fragte sie ihn.
„Es ist deine Entscheidung, Aurelia.“
„Nein, Gaius Julius, du mußt entscheiden. Ich werde deine Frau sein. Ich möchte eine Ehefrau sein, die weiß, was sich gehört, und die ihren Platz kennt. Du wirst der Herr des Hauses sein. Dafür, daß ich dir diesen Platz einräume, erwarte ich nur, daß du ehrlich zu mir bist und mich ehrenhaft behandelst. Die Entscheidung darüber, wo wir leben werden, liegt bei dir. Ich werde sie anerkennen, in Worten wie in Taten.“


Hælvard meint: In diesem Kapitel wird erneut das eigene Idol angesprochen (Cornelia, Mutter der Gracchen). Daran läßt sich gut erkennen, wie wichtig es sein kann ein entsprechendes Idol in der heutigen Zeit zu besitzen und sich bei schwierigen Entscheidungen die Frage zu stellen, wie würde das Idol handeln ...
Weiterhin legt dieses Kapitel eine sehr interessante Sichtweise Aurelias dar, die das Thema der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau verdeutlicht.
Entgegen der heutigen Annahme, Frauen müßten dasselbe leisten wie Männer und umgedreht. Die Folge: verweichlichte Männer und Mannsweiber.

Kein besserer Freund – kein schlimmerer Feind!
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[Kein Betreff] - von Inara - 17.03.12006, 12:43
RE: Starke Frauen - von Paganlord - 23.11.12011, 00:09
RE: Starke Frauen - von Hælvard - 04.12.12011, 13:24
RE: Starke Frauen - von Hælvard - 25.06.12017, 18:04
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Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 18.04.12010, 20:05
Re: Starke Frauen - von Hælvard - 21.04.12010, 12:29
Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 21.04.12010, 19:57
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Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 19.05.12010, 00:52
Re: Starke Frauen - von Maurynna - 21.08.12010, 23:07
Re: Starke Frauen - von Wishmaster - 22.08.12010, 01:17
Re: Starke Frauen - von Maurynna - 22.08.12010, 09:48

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