Das Lied von Troja
#6
Die Ausbildung Achilles'

Chiron erzählt:

Ich hatte einen Lieblingsplatz vor meiner Höhle, die von den Göttern viele Äonen, bevor Menschen auf den Berg Pelion kamen, in den Stein gemeißelt worden war. Er lag am äußersten Ende des Felsens, und ich saß dort viele Stunden auf einem Bärenfell, um meine alten Knochen vor der harten Liebkosung des Steins zu schützen, und blickte über Land und Meer wie ein König, der ich nie war.
Ich war zu alt. Vor allem im Herbst, wenn die Schmerzen anfingen, die Vorboten des Winters. Keiner erinnert sich, wie alt ich wirklich war, ich am allerwenigsten. Es kommt eine Zeit, da die Realität des Alters einfriert und einem all die Jahre und Jahreszeiten nur noch wie eine einzige lange Tageswache auf den Tod vorkommen.

Die Morgendämmerung versprach einen schönen und beschaulichen Tag. Also erledigte ich noch vor Sonnenaufgang meine wenigen häuslichen Pflichten und ging hinaus in die klare graue Luft. Meine Höhle lag hoch oben an der Südseite des Pelion, knapp unter dem Gipfel am Rand eines großen Felsvorspungs. Ich sank auf mein Fell, um die Sonne zu beobachten. Die Aussicht vor mir langweilte mich nie; zahllose Jahre hatte ich von der Spitze des Pelion über die Welt unter mir geblickt, auf die Küste Thessaliens und das Ägäische Meer. Und während ich zusah, wie die Sonne emporstieg, fischte ich eine tropfende Honigwabe aus meiner Alabasterdose mit Süßigkeiten, schob sie in meinen zahnlosen Mund und sog sie hungrig aus. Sie schmeckte nach Wildblüten, Zephirbrisen und Pinienwäldern. Mein Geschlecht, die Kentauren, haben länger auf dem Pelion gelebt, als Menschen zurückrechnen können. Sie haben den Königen Griechenlands als Erzieher ihrer Söhne gedient, denn sie waren einzigartige Lehrer. Ich sage „waren“, denn ich bin der letzte Kentaur; mit mir werden sie aussterben. Im Interesse unserer Arbeit hatten sich die meisten von uns für Keuschheit entschieden, und zudem paarten wir uns ohnehin nur mit unseren eigenen Frauen; doch eines Tages waren die Kentaurinnen ihr unwichtiges Leben leid, packten ihre Sachen und verließen uns. Immer weniger Nachkommen wurden geboren, denn die meisten Kentauren wollten nicht die Mühe auf sich nehmen, nach Thrakien zu reisen, wo sich unsere Frauen den Mänaden angeschlossen hatten und Dionysos huldigten. Und allmählich entstand eine Legende: dass Kentauren unsichtbar seien, denn sie scheuten sich, vor anderen zu erscheinen, weil sie halb Mensch, halb Pferd seien. Ein interessantes Geschöpf, wenn es denn existiert hätte, aber das war nicht der Fall. Kentauren sind einfach nur Menschen.

Mein Name war in ganz Griechenland bekannt: Ich bin der Chiron, der die meisten der Burschen erzogen hat, die später berühmte Helden geworden sind: Peleus und Telamon, Tydeus, Herakles, Atreus und Thyestes, um nur einige zu erwähnen. Das ist allerdings schon lange her, und ich dachte nicht im geringsten an Herakles und seine Sippe, als ich den Sonnenaufgang betrachtete
Pelion ist über und über mit Eschenwäldern bedeckt, die hier größer und gerader wachsen als anderswo. Um diese Jahreszeit sind sie ein schimmerndes, hellgelb leuchtendes Meer, denn jedes einzelne Blatt bewegt sich beim leisesten Windhauch. Unter mir fiel der Felsen steil ab, fünfhundert Ellen, an denen nicht der kleinste grüne oder gelbe Fleck zu entdecken war, doch darunter ragte wieder Eschenwald empor, aus dem Vogelgezwitscher erklang. Menschliche Geräusche hörte ich nie, denn zwischen mir und den Höhen des Olymp befand sich kein Sterblicher. Weit unter mir lag Iolkos, reduziert auf die Größe eines Ameisenreiches – ein gar nicht so weit hergeholter Vergleich, denn die Leute in Iolkos werden Myrmidonen genannt, Ameisen.
Als einzige Stadt auf der ganzen Welt (außer denen in Kreta und Thera, bevor Poseidon sie dem Erdboden gleichmachte) ist Iolkos nicht von Mauern umgeben. Wer würde schon die Heimat der Myrmidonen, dieser unvergleichlichen Krieger, angreifen? Dafür liebte ich Iolkos umso mehr. Mauern empörten mich. In den alten Tagen, als ich noch reiste, konnte ich es nie länger als ein oder zwei Tage aushalten, im Mykene oder Tiryns eingeschlossen zu sein. Mauern waren Gebilde die der Tod aus Steinen errichtete, die aus den Felsbrüchen von Tartaros kamen.
Ich warf die leere Honigwabe fort und langte nach meinem Weinschlauch - geblendet von der Sonne, die ihr rotes Licht über die weite Bucht von Pagasai warf, die goldenen Figuren auf dem Palastdach von Iolkos erglänzen ließ und die Farben der Säulen und Mauern in der Stadt zum Leuchten brachte.

Von Iolkos führte eine gewundene Straße hinauf in meine Abgeschiedenheit aber sie wurde nie benutzt – außer an diesem Morgen. Ich hörte, wie sich ein Fahrzeug näherte. Ärger vertrieb meine Meditation. Ich erhob mich und humpelte los, um dem vermeintlichen Eindringling entgegenzutreten und ihm eine Abfuhr zu erteilen. Es war ein Adliger, der in einem schnellen Jagdgefährt saß, das von zwei thessalischen Brauen gezogen wurde. Auf seinem Hemd trug er die Insignien des Königspalastes. Mit blitzenden Augen und lächelnd sprang er so behände, wie es nur die Jugend vermag, von seinem Wagen und kam auf mich zu. Ich wich zurück; Menschengeruch war mir in jenen Tagen verhasst.
„Der König sendet Euch Grüße, mein Herr“ sage der junge Mann.
„Was ist los, was ist los?“ wollte ich wissen, wobei ich missmutig feststellte, dass meine Stimme rau und brüchig klang.
„Der König hat mich beauftragt, Euch eine Botschaft zu überbringen, edler Chiron. Morgen werden er und sein königlicher Bruder zu euch kommen und ihre Söhne in Eure Obhut geben, bis sie zu jungen Männern herangewachsen sind. Ihr sollt ihnen alles beibringen, was sie wissen müssen.“
Ich erstarrte. König Peleus sollte es besser wissen! Ich war zu alt, um mich mit wilden Bengeln herumzuschlagen, ich unterrichtete nicht mehr, nicht einmal die Nachkommen aus einem so vornehmen Haus wie dem des Aiakos. “Sagt dem König, dass ich durchaus nicht erfreut bin. Ich wünsche weder seinen noch den Sohn von Telamon zu erziehen. Sagt ihm, dass er seine Zeit verschwendet, wenn er morgen in die Berge kommt. Chiron ist im Ruhestand.“
Mit einem Gesicht, das mur Missbilligung ausdrückte, sah der junge Mann mich an. „Edler Chiron, ich traue mich nicht, ihm diese Nachricht zu überbringen. Ich hatte den Auftrag, Euch zu sagen, dass er kommen wird, und den habe ich erfüllt. Ich bekam keine Befehl, eine Antwort auszurichten.“
Als der Bote wieder verschwunden war, ging ich zurück zu meinem Platz, um festzustellen, dass die Aussicht von einem schachroten Schleier überdeckt wurde. Zorn überkam mich. Wie konnte er es wagen anzunehmen, ich würde seine Sprösslingen erziehen, oder den von Telamon? Vor Jahren war es Pelsus selbst gewesen, der Herolde mit der Nachricht, dass Chiron, der Kentaur, sich zurückgezogen habe, durch ganz Griechenland geschickt hatte. Jetzt missachtete er seine eigene Botschaft.
Telamon, Telamon…. Er hatte viele Kinder, aber nur zwei waren seine Lieblinge. Das ältere war ein Bastard, den er mit der trojanischen Prinzessin Hesione gezeugt hatte, er hieß Teukros. Das andere, zwei Jahre jünger, war sein legitimer Nachfolger: Ajax.
Peleus andererseits hatte nur ein Kind, einen Sohn, den seine Königin Thetis nach sechs Totgeburten wundersamerweise lebend zur Welt gebracht hatte. Achilles. Wie alt mochten Ajax und Achilles sein? Sie waren sicherlich noch kleine Jungen. Übel riechend, verrotzt, kaum menschenähnlich. Uhh.
Jegliche Freude wich aus mir. Verdrossen kehrte ich in meine Höhle zurück. Ich würde mich der Aufgabe nicht entziehen können. Peleus war König in Thessalien; ich war sein Untertan und musste ihm gehorchen. Und während ich mich in meinem weiten, luftigen Refugium umsah, überkam mich Angst vor den Monaten und Jahren, die mir bevorstanden. Meine Leier lag auf einem Tisch hinten in der Wohnkammer, ihre Saiten staubbedeckt, weil sie so lange nicht benutzt worden war. Mürrisch und widerwillig betrachtete ich sie, ehe ich sie aufnahm und die Spuren meiner Vernachlässigung fortblies. Die Saiten waren schlaff, ich musste jede einzelne spannen und stimmen; erst danach konnte ich sie spielen.
Ach, und erst meine Stimme! Dahin, dahin. Während Phoibos seinen Sonnenwagen von Osten nach Westen lenkte, sang ich und spielte, versuchte, meine steifen Finger wieder geschmeidig zu machen, streckte Hände und Gelenke, während ich die Tonleiter trällerte. Da es ziemlich unangenehm war, vor den eigenen Schülern zu üben, musste ich vor ihrem Eintreffen eingespielt sein. Und so kam es, dass schon Zwielicht in meiner Höhle herrschte und bereits die stummen, schwarzen Schatten der Fledermäuse herumhuschten, die irgendwo tiefer im Berg ihr Ruche suchten, ehe ich aufhörte zu spielen und zu singen - unsagbar müde, frierend, hungrig und obendrein schlecht gelaunt.

Peleus und Telamon kamen am Mittag. Sie saßen beide im Königswagen, gefolgt von einem weiteren Gefährt und einem rumpelnden Ochsenkarren. Ich ging ihnen auf der Straße entgegen und blieb mit gesenktem Kopf stehen. Es war Jahre her, dass ich den König gesehen hatte, und noch länger war ich Telamon nicht begegnet. Meine Stimmung hob sich, als ich sie näher kommen sah.
Ja, sie waren König, diese Männer strahlten Kraft und Entschlossenheit aus. Peleus war so groß, Telamon so schlank wie immer. Beide hatten ihre Sorgen dahinschwinden sehen, wenn auch erst nach langen Zeiten voller Streit und Krieg. Und die Schmiede des Schicksals hatten in ihren Herzen unauslöschliche Spuren hinterlassen. Das Gold ihrer Haare erstarb allmählich, um dem Silber Platz zu machen, aber an ihren robusten Körpern und in ihren harten, ernsten Gesichtern konnte ich kein Zeichen des Verfalls entdecken.
Peleus stier als erster aus und kam auf mich zu, bevor ich noch zurückweichen konnte; ich verspürte eine Gänsehaut, als er mich liebenswürdig umarmte, doch dann schmolz meinen Abneigung unter seiner warmen Herzlichkeit.
„Früher oder später, Chiron, erreicht man wohl einen Punkt, an dem man aufhört älter auszusehen. Geht es Dir gut?“
„Alles in allem, Herr, sehr gut.“
Wir schlenderten ein wenig von den anderen fort. Ich warf Peleus einen herausfordernden Blick zu.
„Wie könnt ihr mich bitten, wieder zu unterrichten, Herr? Habe ich nicht genug getan? Gibt es denn niemanden sonst, der mit Euren Söhnen umgehen könnte?“
„Chiron, niemand ist besser als du.“ Während er auf mich herabblickte, ergriff Peleus meinen Arm. „Du kannst dir doch sicher vorstellen, wie viel Achilles mir bedeutet. Er ist mein einziger Sohn, es wird keine weiteren geben. Wenn ich tot bin, muss er beide Throne besteigen, also muss er erzogen werden. Ich kann vieles selbst in die Hand nehmen, aber nicht ohne eine solide Grundlage. Nur du kannst sie schaffen, Chiron, und das weißt du auch. Erbkönige haben in Griechenland einen prekären Stand. Es gibt immer Konkurrenten, die nur auf eine günstige Gelegenheit warten.“ Er seufzte. „Und außerdem liebe ich Achilles mehr als mein Leben.“ Wie kann ich ihm die Ausbildung verweigern, die mir zuteil wurde?“
„Das klingt, als würdet ihr den Jungen verzärteln.“
„Nein, ich glaube, er lässt sich nicht verderben.“
„Ich will diese Aufgabe nicht übernehmen, Peleus.“
Stirnrunzelnd wandte er den Kopf zur Seite.“ Es ist töricht, ein totes Pferd zu schlagen, aber willst du die die Jungen nicht zumindest einmal ansehen? Du könntest deine Meinung ändern.“
„Nicht einmal für einen neuen Herakles oder Peleus, Herr. Aber wenn Ihr es wünscht, schaue ich sie mir an.“
Peleus drehte sich um und winkte zwei Burschen heran, die neben dem zweiten Gefährt standen. Langsam kamen sie einer hinter dem anderen näher; den hinteren der beiden konnte ich nicht erkennen. Kein Wunder: Der Knabe vor ihm zog wirklich den Blick auf sich. Dennoch war ich enttäuscht. War das Achilles, der geliebte einzige Sohn? Nein bestimmt nicht. Das musste Ajax sein; für Achilles schien er mir zu alt. Vierzehn? Dreizehn? Er hatte schon die Statur eines Mannes, besaß lange Arme und muskulöse Schultern. Kein übel aussehender Bursche, aber auch nicht außergewöhnlich. Nur ein aufgeschossener Jüngling mit einer leichten Stupsnase und gleichgültigen grauen Augen, in denen kein Funke von wirklicher Intelligenz leuchtete.
„Das ist Ajax“, sagte Telamon stolz. „Er ist erst zehn, obwohl er viel älter aussieht.“
Ich winkte Ajax beiseite.
„Ist das Achilles?“ Meine Stimme klang gepresst.
„Ja“, sagte Peleus bemüht beiläufig. „Er ist auch groß für sein Alter. An seinem letzten Geburtstag ist er sechs geworden.“
Meine Kehle fühlte sich trocken an. Ich schluckte. Schon jetzt besaß er eine ganz eigene Ausstrahlung, einen Zauber, den er unbewusst einsetzte, um sich die Menschen geneigt zu machen. Er war nicht so stämmig wie sein Vetter Ajax, aber doch auch ein großer, gutgebauter Junge. Für sein Alter stand er sehr selbstbewusst da, das Gewicht auf das eine Bein verlagert, das andere anmutig ein kleines Stück davorgesetzt; seine Arme hingen locker, aber nicht ungelenk herab. Er wirkte unbewusst königlich und schien aus purem Gold zu bestehen, mit Haaren wie Helios Strahlen, geschwungenen Brauen wie gelbe Kristalle und einer Haut wie poliertes Edelmetall. Er war sehr schön, bis auf den lippenlosen Mund: schmal wie ein Schlitz und zugleich so herzerweichend traurig und entschlossen, dass er mich dauerte. Ernst sah er mich aus Augen an, die - gelb und umwölkt – die Farbe des späten Morgens hatten; Augen, die erfüllt waren von Neugier, Schmerz, Kummer, Erstaunen und Intelligenz.
Ich schrieb sieben von meinem schwindenden Vorrat an Jahren ab, als ich mich sagen hörte:
„Ich werde sie unterrichten.“


wird fortgesetzt ...
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!
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[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 21.11.12007, 00:20
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Re: Das Lied von Troja - von Vendetta - 30.12.12008, 21:36

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