Das Lied von Troja
#5
Ich geriet ins Wanken. „Thetis? Meine Söhne? Was heißt das? Sprich!“
Ihre Aufregung verebbte, und stattdessen erkannte sie mit wachsendem Erschrecken, dass ich nichts wusste. Sie starrte mich an.
Ich schüttelte sie. „Du fährst besser fort, Aresune. Wie bringt meine Frau ihre Söhne um? Und warum? Warum?“
Aber sie presste die Lippen zusammen und schwieg. Entsetzen lag in ihren Augen. Ich zog meinen Dolch hervor und setzte seine Spitze auf ihre schlaffe, alte Haut.
„Sprich, Frau, oder ich schwöre beim Allmächtigen Zeus, dass ich dein Augenlicht auslösche, dir die Nägel ausreiße, alles werde ich tun, um dir die Zunge zu lösen. Rede, Aresune, rede!
„Sie würde mich verfluchen, Peleus, und das ist schlimmer als jede Folter“, stammelte sie.
„Der Fluch wäre G*ttlos. Und G*ttlose Flüche fallen auf den zurück, der sie ausspricht. Erzähl mir alles, bitte.“
„Ich war mir sicher, Ihr wüsstet es und wäret einverstanden, Herr. Und vielleicht hat sie Recht, vielleicht ist Unsterblichkeit ja wirklich einem leben auf der Erde vorzuziehen, wenn man dabei nicht alt wird.“
„Thetis ist verrückt“, sagte ich.
„Nein, Herr. Sie ist eine Göttin.“
„Das ist sie nicht, Aresune, ich würde mein Leben darauf verwetten. Thetis ist eine gewöhnliche sterbliche Frau.“
Aresune sah ungläubig drein; ich hatte sie nicht überzeugt.
„Sie hat alle Eure Söhne umgebracht, Peleus, das ist alles. Mit den besten Absichten.“
„Und wie? Gibt sie ihnen Gift?“
„Nein, edler Herr. Viel einfacher. Wenn wir sie auf den Gebärstuhl gehoben haben, schickt sie alle Frauen außer mir aus dem Zimmer. Dann muss ich einen Eimer mit Meerwasser unter sie stellen. Sobald der Kopf hervortritt, taucht sie ihn ins Wasser und hält ihn dort so lange, bis das Kind keine Luft mehr schöpfen kann.“
Meine Fäuste schlossen und öffneten sich. „Deshalb also sind sie alle so blau!“ Ich richtete mich auf. „Geh wieder zu ihr, Aresune, sie wird dich sonst vermissen. Ich gebe Dir meinen Eid als König, dass ich nie enthüllen werde, wer mir das erzählt hat. Ich werde dafür sorgen, dass sie keine Gelegenheit erhält, dir ein Leid anzutun. Beobachte sie. Wenn die Wehen einsetzen, sag mir sofort Bescheid. Hörst Du?“
Sie nickte. Ihre Tränen waren versiegt, und ihr schreckliches Schuldgefühl war verflogen. Sie küsste mir die Hände und trippelte davon.

Ich stand da, ohne mich zu rühren, bei erloschenem Licht. Thetis hatte meine Söhne getötet und wofür? Für irgendeinen verrückten, unmöglichen Traum. Irrglauben. Einbildung. Sie hatte sie ihres Rechts beraubt, zu Männern heranzuwachsen, sie hatte so ungeheuerliche Verbrechen begangen, dass ich sie am liebsten mit meinem Schwert durchbohrt hätte. Aber noch trug sie mein siebtes Kind in ihrem Leib. Das Schwert musste noch warten. Und Rache stand den Göttern der Neuen Religion zu.

Am fünften Tag, nachdem ich mit Aresune gesprochen hatte, kam die alte Frau mit aufgelösten, wild im Wind flatterndem Haar zu mir gerannt. Es war spät am Nachmittag, und ich war zu den Pferdengehegen gegangen, um meine Hengste zu begutachten. Die Paarungszeit stand kurz bevor, und die Stallmeister wollten mir berichten, welches Tier von welchem gedeckt werden sollte.
Mit Aresune auf den Schultern eilte ich zurück in den Palast, wobei ich mir selbst wie eine Art Schlachtross vorkam.
„Was werdet ihr tun?“, fragte sie, als ich sie vor Thetis Tür absetzte.
„Mit Dir hineingehen“, erwiderte ich.
Keuchend schrie sie auf. „Herr, Herr! Das ist verboten!
„Genau wie das Töten“, sagte ich und öffnete die Tür.

Die Geburt ist ein weibliches Mysterium, das nicht durch männliche Anwesenheit entweiht werden darf. Es ist eine ganz eigene Welt, eine Erde, zu der kein Himmel gehört. Als die Neue Religion die Alte ablöste, blieben einige Dinge gleichwohl unverändert; Mutter Kubaba, die Große Göttin, gebietet immer noch über die Dinge der Frauen. Vor allem über all jenes, was mit dem Heranwachsen einer neuen menschlichen Frucht zu tun hat – und ihrem Pflücken, sei es zur Zeit der Reife oder des Vergehens.
Als ich eintrat, bemerkte mich zunächst niemand; ich hatte Zeit zu beobachten, zu riechen, zu hören. Das Zimmer stank nach Schweiß und Blut und nach anderen fremden und für einen Mann abstoßenden Dingen. Die Wehen waren weit fortgeschritten, denn die Frauen des Hauses waren dabei, Thetis vom Bett zum Gebährstuhl zu geleiten, während die Hebammen herumstanden, Anweisungen gaben, sich wichtig machten. Meine Frau war nackt, ihr grotesk angeschwollener Unterleib glänzte. Vorsichtig legten sie ihre Schenkel auf das harte Holz zu beiden Seiten der großen Öffnung in der Sitzfläche des Stuhls, die das Ende des Geburtskanals bilden sollte. Hier sollte der Kopf des Neugeborenen erscheinen und der Körper folgen.
Ein hölzener Wassereimer stand daneben auf dem Boden, aber keine der Frauen würdigte ihn eines Blickes, denn sie wussten nicht, weshalb er dastand.
Dann entdeckten sie mich und eilten mit empörten Gesichtern auf mich zu. Sie nahmen an, der König sei verrückt geworden, und waren entschlossen, ihn zu vertreiben. Ich versetzte der nächsten einen Stoß, der sie niederstürzen ließ; die übrigen wichen zurück. Aresune hatte sich über den Eimer gebeugt. Sie murmelte irgendwelche Zaubersprüche, um das Auge des Bösen zu vertreiben, und rührte sich nicht, als ich die Frauen hinausjagte und den Riegel vor die Tür legte.
Thetis hatte alles gesehen. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß, und ihre Augen waren schwarz, aber sie zähmte ihre Wut.
„Geh hinaus, Peleus“, sagte sie leise.
Statt einer Antwort schob ich Aresune beiseite, ging zu dem Eimer mit Seewasser, nahm ihn und schüttete das Wasser auf den Boden.
„Keine Morde mehr, Thetis. Dieser Sohn gehört mir.“
„Mord? Mord? Oh, Du Narr! Ich habe niemanden getötet! Ich bin eine Göttin! Meine Söhne sind unsterblich!“
Ich packte sie bei den Schultern, als sie sich vornübergebeugt auf den Gebährstuhl setzte. „Deine Söhne sind tot, Weib! Sie sind dazu verdammt, wesenlose Schatten zu sein, weil du ihnen keine Gelegenheit gegeben hast, große Taten zu vollbringen, um damit die Liebe und Bewunderung der Götter zu gewinnen. Keine Elysischen Felder, keine Heldentum, kein Platz zwischen den Sternen. Du bist keine Göttin! Du bist eine sterbliche Frau!“
Ihre Antwort war ein gequälter Aufschrei. Sie bog den Rücken durch, und mit den Händen ergriff sie so heftig die Holzlehnen des Stuhls, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Aresune erwachte zum Leben. „Der Augenblick ist da!, rief sie.
„Es kommt!“
„Du wirst es nicht bekommen, Peleus! knurrte Thetis.
Sie fing an, die Beine zusammenzupresssen, entgegen allen ihren Instinkten, die sie eigentlich veranlassten, sie weit zu öffnen. „Ich werde den Kopf zu Mus zerquetschen“, fauchte sie, und dann schrie sie unaufhörlich. „ O Vater! Vater Nereus! Er reißt mich auseinander!“
Die Adern über ihren Brauen traten hervor wie Purpurstränge, Tränen rollten über ihre Wangen, und immer noch kämpfte sie darum, die Beine zu schließen. Obwohl sie fast wahnsinnig vor Schmerzen war, wandte sie ihren ganzen Willen auf und presste ihre Beine unerbittlich zusammen, kreuzte sie und wand sie umeinander, damit sie nicht mehr zu öffnen waren.
Aresune hockte auf dem Boden, mit dem Kopf unter dem Stuhl. Ich hörte, wie sie aufschrie, dann folgte ein schrilles Auflachen.“Ai!Ai!“ kreischte sie. „Peleus, das ist der Fuß. Es wird eine Steißgeburt, der Fuß ist schon da. „Sie krabbelte hervor, stand auf und riss mich mit der Kraft eines jungen Mannes in ihrem alten Arm herum.
„Wollt Ihr eine lebendigen Sohn?“ fragte sie.
„Ja, ja“
„Dann öffnet ihr die Beine, Herr. Er kommt mit dem Fuß zuerst, sein Kopf ist noch unverletzt.“
Ich kniete mich nieder und legte meine linke Hand auf Thetis oberes Knie, dann ließ ich meine Rechte daruntergleiten, um ihr anders Knie zu packen, und zwang sie auseinander.
Thetis hob den Kopf und schleuderte Flüche und Speichel wie einen ätzenden Regen auf mich herab; ihr Gesicht - ich schwöre es - , ihr Gesicht hatte sich, als wir uns anblickten, in das schuppige, keilförmige Antlitz einer Schlange verwandelt. Ihre Knie öffneten sich; ich war zu stark für sie. Wenn das nicht ihre Sterblichkeit bewies, was dann?
Aresune taucht unter meinen Armen durch. Ich schloss die Augen und wartete. Plötzlich ein scharfes, kurzes Geräusch, ein krampfhaftes Keuchen, und dann war der Raum erfüllt von dem Geschrei eines Neugeborenen.
Meine Augen öffneten sich, ungläubig starrte ich Aresune an und das, was sie kopfüber in einer Hand hielt – ein grässliches, nasses, glitschiges Etwas, das hin und herzuckte und bis zum Himmel hoch schrie – Ein Etwas mit einem Penis und Hoden. Ein Sohn? Ich hatte einen lebendigen Sohn!
Thetis saß stumm da, ihr Gesicht leer und unbewegt. Aber ihre Augen waren nicht auf mich gerichtet, sondern auf meinen Sohn, den Aresune jetzt säuberte, von der Nabelschnur befreite und in frisches weißes Linnen wickelte.

„Ein Sohn, der Euer Herz erfreuen wird, Peleus!“, lachte die Hebamme. „Der größte, gesündeste Säugling, den ich je gesehen habe. Ich habe ihn an seinem kleinen rechten Hacken herausgezogen.“
Panik erfasste ich. „Sein Hacken! Sein rechter Hacken, Alte! Ist er gebrochen? Deformiert?“
Sie hob die Wickelbahnen, um mir einen gesunden – linken – Hacken zu zeigen und einen geschwollenen, verletzten Fuß.“ Sie sind beide in Ordnung, Herr. Der Rechte wird verheilen, und die Wundmale werden verschwinden.“
Thetis lachte, ein schwaches, heiseres Geräusch. „Seine rechte Ferse. So hat er also irdische Luft eingeatmet. Sein Fuß kam als erstes… Kein Wunder ,dass er so an mir gezerrt hat. Ja, die Male werden verschwinden, aber der rechte Hacken wird sein Verderben sein. Eines Tages, wenn er ihn stark und sehnig braucht, wird er sich an den Tag seiner Geburt erinnern und ihn im Stich lassen.“
Ich hörte nicht auf sie, streckte nur meine Arme aus. „Gib ihn mir! Lass ihn mich ansehen, Aresune! Herz meines Herzens, Fleisch von meinem Fleisch, mein Sohn! Mein Sohn!“

Ich unterrichtete den Königshof, dass ich einen lebenden Sohn besaß. Dieser Jubel, diese Freude! Ganz Iolkos, ganz Thessalien hatte mit mir die Jahre hindurch gelitten.
Aber nachdem alle wieder gegangen waren, saß ich auf meinem schneeweißen Marmorthron, den Kopf zwischen den Händen, und war so müde, dass ich kaum noch denken konnte. Die Stimmen erstarben allmählich in der Entfernung, und die dunkelste, einsamste Nacht breitete sich aus. Ein Sohn. Ich hatte einen lebenden Sohn, aber ich hätte sieben lebende Söhne haben sollen. Meine Frau war eine Verrückte.

Sie kam barfuß in den kaum erleuchtenden Raum, trug wieder das durchsichtige, fließenden Gewand wie in Skyros. Ihr Gesicht sah alt aus. Langsam ging sie über den kühlen Fliesenboden; ihr Gang verriet, dass ihr Körper schmerzte.
„Peleus“, sagte sie am Fuß des Throns.
Ich hatte Thetis durch meine Hände schauend kommen sehen, jetzt ließ ich sie sinken und hob den Kopf.
„Ich gehe zurück nach Skyros, mein Ehemann.“
„Lykomedes wird dich nicht mehr haben wollen, Weib.“
„Dann gehe ich dahin, wo ich erwünscht bin.“
„Wie Medea, in einem von Schlangen gezogenen Wagen?“
„Nein. Ich werden auf den Rücken eines Delphins reiten.“

Ich sah sie nie wieder.
Im Morgengrauen kam Aresune mit zwei Bediensteten, stellte mich auf die Füße und brachte mich in mein Bett. Eine vollen Umlauf von Phoibos endloser Reise um unsere Welt schlief ich, ohne mich später an einen einzigen Traum zu erinnern, dann erwachte ich mit dem Gedanken, dass ich einen Sohn hatte. Auf Hermes geflügelten Sandalen eilte ich hinauf zu ihm, um gerade noch zu sehen, wie Aresune ihn seiner Amme abnahm – einer gesunden, jungen Frau, die ihre eigenes Kind verloren hatte, wie die Alte ausplauderte. Sie hieß Leukippe: die weiße Stute.
Nun reichte sie ihn mir. Ich nahm ihn in die Arme und fand ihn recht schwer. Doch das war nicht weiter verwunderlich bei einem Kind, das aussah, als sei es aus Gold gemacht. Goldene Locken, goldene haut, goldene Brauen und Wimpern. Die Augen, die mich unverwandt anblickten, waren dunkel, aber ich stellte mir vor, dass sie später einen goldenen Schimmer annehmen würden.
„Wie werdet ihr ihn nennen, Heer?“ fragte Aresune.
Das wusste ich nicht. Er sollte einen eigenen Namen haben, nicht den eines anderen. Aber welchen? Ich betrachtete die Nase, Wangen, Kinn, Stirn, Augen und fand alles vortrefflich geformt. Er sah mehr nach Thetis als nach mir aus. Die Lippen waren allerdings ganz seine, denn er besaß keine; ein gerader Schlitz in seiner unteren Gesichtshälfte, der zugleich wild entschlossen und herzzerreißend traurig wirkte, diente ihm als Mund.
„Achilles“, sagte ich.
Sie nickt zustimmend. „Der Lippenlose. Ein guter Name für ihn, lieber Herr. Dann seufzte sie. Seine Mutter hat ihm geweissagt. Werdet ihr das Orakel in Delphi befragen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Meine Frau ist verrückt; ich glaube nicht an ihre Prophezeiungen. Die Pythia jedoch spricht die Wahrheit. Ich will nicht wissen, was meinen Sohn erwartet.
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!
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[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 21.11.12007, 00:20
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Re: Das Lied von Troja - von Vendetta - 30.12.12008, 21:36

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