21.11.12007, 00:28
Poseidons heiliger Bezirk und Altar – er hatte keinen eigentlichen Tempel – lagen am anderen Ende der Insel, im weniger fruchtbaren und besiedelten Teil. Ein ziemlich merkwürdiger Ort für das Haupheiligtum des MeeresG*ttes. Sein Wohlwollen war für jede Insel lebenswichtig, da sie schließlich ringsum von seinem Wasser reich eingeschlossen war. Seine Launen und seine Gnade entschieden darüber, ob Wohlstand oder Hunger vorherrschte, und man nannte ihn auch nicht umsonst den Beweger der Erde. Ich hatte selbst die Folgen seines Zorns miterlebt, ganze Städte hatten anschließend flacher dagelegen als Gold unter dem Hammer eines Goldschmiedes. Poseidon war jähzornig und sehr auf seine Reputation bedacht; zweimal seit Menschengedenken war Kreta von seiner Rache zermalmt worden, weil dessen Könige so von ihrer eigenen Herrlichkeit überzeugt gewesen waren, dass sie vergessen hatten, was sie ihm schuldeten. Und Thera war es genauso ergangen.
Wenn diese Frau, die Lykomedes mir unbedingt zeigen wollte, wirklich ein Nachfahrin Nereus sein sollte, der über die Meere geherrscht hatte, als Kronos vom Olymp aus die Welt regierte, konnte ich verstehen, dass die Orakel ihre Abberufung verlangten. Zeus und seine Brüder hatten nichts mehr übrig für die alten Götter, die sie gestürzt hatten- und wer vermochte auch schon einem Vater zu vergeben, der einen auffraß?
Ich ging allein und zu Fuß zu dem Bezirk. Ich trug einfache Jagdkleidung und führte meine Opfergabe an einem Seil mit mir. Ich wollte, dass sie mich für eine gewöhnlichen Sterblichen hielt und in mir nicht den König von Thessalien erkannte. Der Altar stand auf einer Landzunge, die eine kleine Bucht überragte. Behutsam bahnte ich mir den Weg durch den geheiligten Hain, der davor lag. Die Stille und die schwere, erstickende Atmosphäre machten mich benommen. Selbst das Meer war kaum zu hören, obwohl die Wellen gemächlich heranrollten und sich dann in weißer Gischt an den zackigen Felsen am Fuß der Klippe brachen. Vor dem einfachen, quadratischen Altar brannte in einem goldenen Dreifuß das Ewige Feuer. Ich trat vor, blieb stehen und zog meine Opfergabe zu mir heran.
Fast zögernd trat sie ins Sonnenlicht, als ob sie den Aufenthalt an einem kühlen und feuchten Platz vorzog. Fasziniert starrte ich sie an. Klein, schmal und fraulich wie sie war, besaß sie dennoch eine Ausstrahlung, die ganz und gar nicht feminin wirkte. Statt der üblichen Kleidung mit Rüschen und Stickereien trug sie eine einfache Robe aus edlen, durchsichtigen Leinen, wie es die Ägypter weben. Die Farbe ihrer Haut, blass und bläulich, war deutlich zu erkennen. An einigen Stellen hatte der Stoff Streifen, denn er war nicht gleichmäßig gefärbt worden. Ihre vollen Lippen waren blassrosa, und ihre Augen changierten in allen Schattierungen des Meeres - grau, blau, grün und sogar purpur wie dunkler Wein. Sie war nicht geschminkt; nur eine dünne schwarze Linie zog sich um ihre Augen und war weiter nach außen gezogen worden, was ihr ein etwas unheimliches Aussehen verlieh. Ihr Haar war völlig farblos, weiß wie Asche mit einem leichten Schimmer, der es im Dunkeln bläulich erschienen ließ.
Ich näherte mich ihr und bot ihr meine Opfergabe an. „Edle Frau, ich bin zu Besuch auf Eurer Insel, und ich bin gekommen, um Vater Poseidon zu opfern.“
Mit einem Nicken streckte sie die Hand aus und ergriff das Seil. Dann musterte sie mit Kenneraugen das weiße Bullenkalb. „Vater Poseidon wird erfreut sein. Es ist lange her, dass ich ein solches schönes Tier gesehen habe.“ „Da ihm Pferde und Bullen heilig sind, hielt ich es für das Beste, ihm darzubringen, was er am liebsten hat.“
Sie starrte eindringlich in die Altarflamme. „Der Augenblick ist nicht günstig für eine Opfergabe. Ich werde es ihm später darbieten.
„Wie ihr wünscht, edle Dame.“ Ich wandte mich zum Gehen.
„Wartet“
„Ja?“
„Was soll ich dem G*tt sagen, wer ihn da opfert?“
„Peleus, König in Iolkos und Thessalien.“
Ihre Augenfarbe wechselte unvermittelt von einem hellen Blau in ein dunkles Grau.
„Kein gewöhnlicher Mann. Euer Vater war Aiakos, und dessen Vater war Zeus selbst. Euer Bruder Telamon ist König von Salamis, und auch Ihr seid von königlichem Geblüt.“
Ich lächelte. „Ja, ich bin der Sohn des Aiakos und Bruder von Telamon. Wer mein Großvater ist - ich habe keine Ahnung. Obwohl ich bezweifle, dass es der Göttervater selbst war. Wahrscheinlich eher ein Räuber, dem meine Großmutter gefiel.“
„Frevelhaftigkeit, König Peleus“, entgegnete sie in gemessenem Ton, „ lassen die Götter nicht ungestraft.“
„Ich kann nicht erkennen, dass ich frevle, edle Frau. Ich bete und opfere im vollen Glauben an die Götter.“
„Dennoch leugnet ihr Zeus als Euren Großvater.“
„Solche Geschichten werden erzählt, um das Recht eines Mannes auf einen Thron zu bekräftigen, wie es bei meinem Vater Aiakos zweifellos der Fall war.“
Geistesabwesend streichelte sie die Nase des weißen Bullenkalbs. „Ihr hättet im Palast bleiben müssen. Warum ließ König Lykomedes Euch allein und unangemeldet herkommen?“
„Weil ich es wünschte.“
Nachdem sie das Kalb an einen Ring an einer Säule gebunden hatte, wandte sie sich von mir ab.
„Und wer, edle Dame, hat meine Opfergabe angenommen?“
Aus völlig unbeteiligt dreinsehenden grauen Augen warf sie mir über die Schulter einen Blick zu.
„Ich bin Thetis, Tochter des Nereus. Und zwar nicht vom Hörensagen, König Peleus. Mein Vater ist ein großer G*tt.“
Es war Zeit zu gehen. Ich dankte ihr und verließ sie.
wird fortgesetzt ...
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!