Pro und Contra Natürlichkeit
#4
N'abent, Herr Lord,


Zitat:Das wird grundsätzlich immer mißverstanden, wenn "Neue" hier hereinkommen. Mit geistiger Reinheit ist eine Art "Gedankenhygiene" gemeint. Man hält seinen Kopf sauber. Also kein Werbemüll, kein Tratschgequatsche vom Nachbarn, keine Horrorromane von Steven King und keine Schlager, die man unbewußt vor sich hinsingt, ohne darüber nachzudenken. Kurz: Gedankenkontrolle (man denkt und sagt nur das, was man auch denken und sagen wollte; Stichwort: Bewußtseinsreinheit, man bitte nur das in die gute Oberstube, was man auch drin haben will).


Den Begriff "Gedankenhygiene" finde ich gänzlich unpassend, danke, daß du ihn in Gänsefüßchen gesetzt hast. Er ist ähnlich unsinnig kreuz-konnotierend, wie "soziale Hygiene", ein anderer typischer Begriff aus der "Wir-haben-die-absolute-Wahrheit"-Szene. "Hygiene" ist nämlich bereits anderweitig eindeutig definiert, und stammt aus einem völlig anderen Kontext als "Gedanke" - ich würde also lieber ganz abstrakt Gedankenklarheit sagen, da erübrigen sich dann auch gleich die Gänsefüßchen. "Gedankenkontrolle" klingt für mich zwar schon etwas annehmbarer, aber auch der Begriff paßt nicht wirklich: Kontrolle wird nämlich über fraktionale Inhalte von Denkvorgängen und zugehörige Prozesse ausgeübt (denn da steckt ein gewisser Wille drin, und der will antreiben, steuern und regeln), nicht über Gedanken, denn die sind, landläufig gesprochen, zum größten Teil Denkprozeß-Produkte. Wer Gedanken kontrollieren wollte, wäre demnach Zensor. Ja, ich weiß, das ist ein wenig Haarspalterei und nur eine Meta-These ohne absoluten Gültigkeitsanspruch, aber manchmal helfen solche Gewichtungen, ein vorgefertigtes Bild etwas zu lockern.
Dein ganzer Absatz läßt sich, wohlwollend interpretiert, mit einem kurzen Satz ziemlich vollständig beschreiben:
"Konzentration aufs Wesentliche anstreben". Das unterstütze ich natürlich.


Zitat:Sie waren einmal Mainstream, vor langer langer Zeit. Nach dem Kreisprinzip (Negation der Negation) kommt es also irgendwann wieder.


Das glaube ich nicht. Geschichte wiederholt sich nicht, und falls doch, dann als Farce (siehe nächster Punkt, unten).
Ganze Kulturen sind erst recht nicht wiederholbar - sie sind viel zu komplex strukturiert, sowie stark zufalls- und situationsabhängig, und die Menschen sind eben nach Jahrtausenden der Entwicklung keine hochrobusten Steinzeitmenschen mehr, sie haben völlig andere Konditionierungen, Fähigkeiten und Bedürfnisse hinzugewonnen, dafür aber andere unweigerlich eingebüßt. Einmal erlangte kognitive Fähigkeiten lassen sich keineswegs mehr vollständig durch "Instinkt" ersetzen, ohne daß dabei gravierende, essentielle Überlebensvorteile verloren gingen. Die allermeisten Menschen sind ohne Industrie nicht mehr lebensfähig - muß "Neo"-Paganist sie daher sterben lassen, sobald sich die Frage konkret stellen würde? Würden "Neo"-Pagans z.B. einen Diabetiker ohne Insulin lassen, falls sie aber dennoch welches in irgendwelchen Überlebenskisten gefunden hätten? Wüßten sie dann überhaupt (noch), was "Insulin" ist, und wie man es benutzt oder weitergibt, und an wen? Weil... ist ja "unnatürlich"... Und wieder hätten wir eine heftige Kontextübertragung, nämlich den Begriff der "natürlichen Auslese" - völlig unsinnig und durchs Hintertürchen - aus der Tierwelt in die Menschenwelt verfrachtet, wo er eindeutig nicht hingehört - und das auch noch zeitlich im voraus. So was ist eine Art Realitätsblase - die kann man sich zwar gerne basteln, aber ich bezweifle, ob die einer komplexen Realität standhalten kann. Grund: die Realität da draußen, außerhalb aller Realitätsblasen, ist _entropisch_, das heißt, die Komplexität wird zwangsläufig zu-, und nicht wieder abnehmen. Außerdem ist die Kultur-Zyklik eine These, bei der einige Parameter dergestalt verrutscht sind, daß man praktisch "alles mit allem" erklären könnte, wenn man nur wollte = Beliebigkeit. Somit wären da schon noch ein paar Widersprüche aufzulösen, und einige Kompromisse mit Grundelementen anderer Weltentwürfe und -Modelle zu erreichen. Das ist für mich dabei der springende Punkt, denn nur so erreicht man eine gewisse Kompatibilität mit dem Rest der Welt. Aber das nur am Rande.


Zitat:Mag sein. Aber was, wenn keine Technologien mehr funktionieren? Z. B. wegen Sonnensturm oder sowas. Dann bleibt doch nur übrig, alles über Bord zu werfen und Rückbesinnung zur Natur. Das wäre halt ebenso möglich.
Eine andere Variante ist die völlige Eliminierung der Überbevölkerung. Also die Reduzierung der Erdbevölkerung auf ein paar hundert oder tausend Zweibeiner. Was weiß ich: Naturkatastrophe oder sonstiges. Damit würden automatisch die jetzt herrschenden Machtstrukturen verschwinden. Ein Neuanfang wäre die Folge.


Das halte ich in der Form für unwahrscheinlich. Für viel wahrscheinlicher halte ich den Zusammenbruch unserer zentralisierten Energiewirtschaft (aus verschiedenen Gründen in absehbarer Zeit hochwahrscheinlich). Die Pappnasen der Energiewirtschaft sind nämlich mit Alternativen ein bissi spät dran, und außer den sehr löblichen Schweden (Hej Svenska Buxn, ich bin richtig stølz auf euch!) hat bislang kaum jemand ernsthaft dran gedacht und auch gesetzlich _umgesetzt_, daß das eventuell sehr viel schneller gehen könnte, als uns derzeit lieb sein kann. Dann nämlich bleiben mit Sicherheit viele auf der Strecke, denn die Volkswirtschaften brechen alle zusammen. Keine ausreichenden Ernten mehr, da klimatische Extrema in den nächsten hundert Jahren sowieso zunehmen werden, und dann ist wirklich Schicht im Schacht. Und die paar, die überleben, werden sich um die restlichen Technologien kloppen. Nicht um Elektronik oder ähnlichen Tinneff, all das ist nutzlos, da die Regeln, nach denen hochtechnologische Produkte gebaut, genutzt und gewartet werden, ziemlich schnell vergessen werden. Essentielle Kenntnisse gehen allerdings nicht so schnell verloren.
Und wie wird das dann laufen? So: mechanische Brunnenpumpe aus Holzprügeln, Hanfseilen (*gg*) und ein paar rostigen Nägeln und Rohren gebaut, und was passiert? Ein poar bunt angemalte "Neo"-Pagans stehen auf der Matte und wollen Wasser, aber dummerweise haben sie was gegen Bassins, in denen "künstlich" Wasser aufbewahrt wird, mehr, als vom Pumpenbesitzer-Clan zu dem Zeitpunkt benötigt wird, und bei dem sie eigentlich einkaufen wollten. Fazit: Nix inhaltliches wurde gelöst, die Pagans verdursten voll edlen Gemüts und das wars dann. Also: warum die horrenden Widersprüche im Pagan-Weltbild nicht lieber gleich konstruktiv und entspannt auflösen, bevor die Pumpe tatsächlich gebaut werden wird? (ich geb zu, das Beispiel klingt leicht überzeichnend *gg*)

Grüße
Mc
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