Alexander, wie alles begann
#4
Olympias, die Priesterin

Viele Dinge blieben für Olympias Rätsel, jedenfalls in den Einzelheiten. Was im Tempel der Insel Samothrake geschah, bekümmerte sie kaum; das war für die gewöhnlichen Leute, die zu den Göttern wollten oder Nachwuchs erhofften und Reichtum erbitten wollten oder sich in den Mysterien verloren. Die wirklich wichtigen Dinge ereigneten sich an anderen Orten: in den Höhlen und Hainen.

Dort wurden die Priester eingeweiht und ausgebildet, zu denen sie nun gehörte; und von dem was die Priester erfuhren, gaben sie nur einen winzigen Teil an die Menschen weiter.

Manchmal, in Momenten der Hellsichtigkeit nach tagelangem Fasten begriff sie alles. Dann war sie nicht Priesterin, sondern Teil der Göttin. In diesen lichten Momenten war ihr Verstand ein hoher glänzender Adler, dessen Fersen die Sonne nicht sengen konnte. Dann sah Olympias die Umrisse jenseits der Bilder und Worte und die Fäden, an denen diese Bilder und Worte hingen und die Menschen, die diese Fäden hielten und sponnen, und sie begriff, daß auch die Mysterien nicht mehr die wahren und ursprünglichen Geschichten erzählten.

Statt dessen offenbarte sich eine dreifach schreckliche Wahrheit: die Unterwerfung der Natur durch den Menschen, die Unterwerfung der Frau durch den Mann und die Unterwerfung des Geistes durch eine feindliche Priesterschaft, die nicht den alten Göttern diente, sondern dem Schein des Erdenseins, in dem sie alle gefangen gehalten waren. Sie begriff die Kuppel, die alles Irdische wie eine Haube umgab, um die andere Welt, die richtige Welt da draußen, vor den Taten und Gedanken der einfachen Menschen zu schützen. Und sie begriff sich als Dienerin dieser anderen Welt, die Soldatin und Priesterin zugleich war, um dem wahren Tempel zu nutzen, den falschen G*tt zu bekämpfen und die Wahrheit wissend zu tragen.

Große fruchtbare Mutter enträtselt und urbar gemacht, von Horos verehrt und von Osiris begattet, während der Bruder Sethus ein Geschlecht männlicher Könige einrichtete und den Bruder mordete. Gorgo Medusa, furchtbare Mutter und Herrin der Schlangen. Isis-Hathor große fruchtbare Kuh, freie Herrin aller Männer statt gefügige Gattin des einen.

Olympias, die Priesterin, die in die Geheimnisse des Tempels eingeweiht wurde, damit sie einen wissenden Sohn gebäre, der in einer großen Anstrengung die ursprüngliche Wahrheit restaurieren würde, und das Ansehen der ehrwürdigen Götter und ihrer wahrhaftigen Priesterschaft unter der ganzen Erdenkuppel verbreiten würde. Er, der Verkünder der ehrwürdigen Wahrheit der Göttin, der den Verrat des einen Priesterg*ttes rächen und austilgen würde und der Ägypten von den Persern befreien würde. Der gesalbte Pharao, der gedankenlos gedankenvolle Heros, der die Welt zerstören und heilen würde; der jung sterben und unsterblich leben würde; dem alle Gaben gehören, die je ein Sterblicher besaß, und der alles opfern würde, um dem wahren Tempel zu dienen, der da draußen war; und der reich belohnt werden würde, mit Gold und Weisheit.

Olympias entfernte das Schwämmchen aus ihrer Scheide, richtete sich auf und streifte die Kette wieder über den Kopf. Horosauge und Ankh lagen zwischen ihren Brüsten. Sie fuhr mit der Zunge über die Lippen und warf das lange brandrote Haar mit einer jähen Kopfbewegung zurück. Der Ägypter kleidete sich an; flüchtig verneigte er sich vor Olympias und dann vor der Statue des gehörnten Widderg*ttes. Er sah Olympias an, und wieder ging ein Weg zu Ende. "Morgen wird er kommen." Olympias öffnete die Augen weit, Gefäße eines tiefen schwarzen Lichts. "So bald? Und - woher weißt du?"

"So spät. Endlich."

Einen Moment wirkte Olympias sehr jung, fast kindlich und sehr einsam. "Und dann?" sagte sie mit dünner Stimme.

"Du bist eingeweiht - in alle Stufen des Mysteriums. Du weißt alles, was es zu wissen gibt - über die Götter, die wahre Welt, über die Innenseite des Tempels und die Außenseite des Fleisches. Neun Tage wirst du ihn geleiten."

"Wie?" Sie drehte sich auf die linke Seite, stützte sich auf den Ellenbogen.

Der Ägypter folgte den Bewegungen des Amuletts und der Brüste. "Er kommt als einer, der die Priester um Rat befragt, denn er hat Pläne für sich und die Zukunft seines Landes. Neun Tage wirst du ihn dabei geleiten, als Priesterin, und neun Nächte als Gefährtin. Er ist groß, ein Herrscher unter den Männern. Stark und sehr klug, aber auch sehr dickköpfig und trotzig. Er beachtet uns Priester nur gering, und es besteht Gefahr, daß er auf den Verräter-Priester hereinfällt, der Sethus ist, und die Ohren der Menschen und ihrer Herrscher vergiftet. Sethus ist schon auf dem Weg zu ihm, wir müssen ihm zuvorkommen."

Sie lächelte. "Aber wenn er so stark ist und so klug und ebenso trotzig, wie kann ich ihn dann zu meinem und unserem Mann machen? Daß er meinen Sohn zeugt - Ammons Gefäß?"

Der Ägypter lachte halblaut. "Jede Priesterin kann einen klugen Mann lenken, nur ein Trottel hört nicht auf den Rat der Priesterinnenfrau. Er ist kein Trottel - ihr solltet gut miteinander auskommen." Er wandte sich der Ammonstatue zu. Um den Hals des G*ttes ringelte sich beinahe lebensecht eine große goldene Schlange. Der Ägypter streckte die Hand aus und berührte eines der goldenen Widderhörner der Statue. Er brach es ab, und Olympias stieß einen heiseren Schrei aus.

"Vergiß nicht", sagte der Priester ernst, "mein Freund, der Priester Aristandros ist in seiner und deiner Nähe und stets mit dir. Wenn du je Hilfe benötigst, wird er da sein, um dich anzuleiten." Der Ägypter legte das abgebrochene Horn des Widderg*ttes neben Olympias auf die Liege. Mit weit aufgerissenen Augen sah Olympias, wie sich das Horn zu einer Schlange verwandelte, die sich entrollte, den Kopf hob und leise zischte und sich Olympias schließlich um den Hals legte - um dann auf ihren Kopf zu kriechen. "Und auch die Göttin", und der Ägypter wies dabei auf die Schlange, die zuvor noch ein Widderhorn gewesen war, "wird dich stets begleiten und dich mit ihrem Schutz umhüllen."

Entweder man findet einen Weg oder man schafft einen Weg!
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Alexander, wie alles begann - von Paganlord - 07.05.12005, 14:16
RE: Alexander, wie alles begann - von Erato - 22.10.12024, 17:10
[Kein Betreff] - von Paganlord - 07.05.12005, 14:47
[Kein Betreff] - von Paganlord - 07.05.12005, 16:26
[Kein Betreff] - von Paganlord - 18.06.12006, 15:19
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