Hesse
#1
Vielmals habe ich zugesehen, wie ein Saal voll Menschen, eine Stadt voll Menschen, ein Land voll Menschen von jenem Rausch und Taumel ergriffen wurde, bei dem aus dem Einzelnen eine Einheit, eine homogene Masse wird, wie alles Individuelle erlischt und die Begeisterung der Einmütigkeit, des Einströmens aller Triebe in einen Massentrieb Hunderte, Tausende oder Millionen mit einem Hochgefühl erfüllt, einer Hingabelust, einer Entselbstung und einem Heroismus, der sich anfänglich in Rufen, Schreien, Verbrüderungsszenen mit Rührung und Tränen äußert, schließlich aber in Krieg, Wahnsinn und Blutströmen endet. Vor dieser Fähigkeit des Menschen, sich an gemeinsamem Leid, gemeinsamem Stolz, gemeinsamem Hass, gemeinsamer Ehre zu berauschen, hat stets mein Individualisten- und Künstlerinstinkt mich gewarnt. Wenn in einer Stube, einem Saale, einem Dorf, einer Stadt, einem Land dieses schwüle Hochgefühl spürbar wird, dann werde ich kalt und mißtrauisch, dann schaudere ich und sehe schon das Blut fließen und die Städte in Flammen stehen, während die Mehrzahl der Mitmenschen, Tränen der Begeisterung und Ergriffenheit in den Augen, noch mit dem Hochrufen und der Verbrüderung beschäftigt ist.


*


Ich, ein einzelner, einerlei ob man mich als >groß< (wie sie es ausdrücken) oder mehr als pathologisch nehmen will, war nie fähig, der Richter oder Korrektor anderer zu sein.
Ich habe, was ich erlebt und dabei gedacht habe, je und je mitgeteilt, nie aber im Glauben, ich spreche damit Maximen oder gar Axiome einer Weltgerechtigkeit aus, sondern - darin bin ich doch weniger dumm, als Sie mich sehen - ich wußte dabei stets genau, daß ich da als einzelner spreche, nicht als Funktionär einer objektiven Wahrheit, nicht als Prediger einer an sich glaubenden Organisation und Doktrin.
Wenn ich so viele Zweifel habe und über Gerecht und Ungerecht nicht so göttlich Bescheid weiß, so weiß ich dafür doch: mit meiner Methode, den Menschen nicht Doktrinen und vermeintlich exakte Wahrheiten, sondern Erlebtes, Subjektives, also nichts >Wahres<, wohl aber Wirkliches mitzuteilen - mit dieser Methode bleibe ich vielleicht in Ihrem Sinn erfolglos und rede in den Wind (was aber auch nicht stimmt, denn ich weiß aus tausend Briefen und Gesprächen um die Art der Wirkung, die mir möglich ist), aber dafür bin ich auch sicher, daß um meinet- und meiner Wahrheit und Art willen nie ein Mensch oder gar ein Volk verfolgt, daß meine Lehren nie von Polizei, Justiz und Armee durchgeführt werden, sei es im Sinn Stalins, des Weltgerechten oder des Bundesrats X., der nicht minder genau um die Gerechtigkeit weiß. Es wird auf meinem Weg kein Blut vergossen und keine Gewalt getan, wohl aber auf dem Ihren, auf dem Wege des Anspruchs auf unbedingte Wahrheit, wie sie jede Partei, jedes Volk, jede politische Organisation für sich in Anspruch nimmt und mit mehr oder weniger Gewalt durchzuführen versucht.


Hermann Hesse
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[Kein Betreff] - von Abnoba - 15.04.12005, 14:58

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