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Sie hassen unsere Freiheit
"Sie hassen unsere Freiheit", das war der zentrale Satz in George W. Bushs Ansprache vor dem US-Kongress kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Aus heutiger Sicht trieft der Satz des damaligen US-Präsidenten vor tiefer, trauriger Ironie.
Der Spähskandal besteht aus der Errichtung einer weltweiten digitalen Überwachungs- und Kontrollmaschinerie. Betrieben wird diese Riesenmaschine von einem geheim agierenden, kaum entwirrbaren Geflecht aus Behörden und Unternehmen, toleriert, gedeckt oder gefördert von substantiellen Teilen der Politik in demokratischen Ländern. Als wäre das für sich genommen nicht fürchterlich genug, ist eben dieser Spähskandal nur ein Symptom. Aber wofür?
An diesem Dienstag haben 560 Schriftsteller, darunter fünf Nobelpreisträger, weltweit in über 30 Zeitungen einen Aufruf gegen die Totalüberwachung veröffentlicht. Darin findet sich die Passage: "Überwachung durchleuchtet den Einzelnen, während die Staaten und Konzerne im Geheimen operieren. Wie wir gesehen haben, wird diese Macht systematisch missbraucht." Diese Macht. Exakt: Überwachung ist vom Ermittlungsinstrument gegen Verbrechen zum Machtinstrument geworden. Und zwar gegen Bürger. "Wissen ist Macht" in einer neuen Dimension: Wissen über Menschen ist Macht über Menschen.
NSA, FBI und der britische Geheimdienst GCHQ haben virtuelle Spielwelten wie "Second Life" und "World of Warcraft" überwacht. Allein schon der Gedanke, in "World of Warcraft" würden Terroristen beruflich umherstreifen, ist absurd. Aber immerhin war es höchst wirkungsvoll: Es gab weltweit keinen einzigen Anschlag eines Orks. Es geht schon lange nicht mehr um die Verhinderung von Terrorismus oder auch nur von Straftaten. Es geht um die Kontrolle der Bevölkerung: Niemand soll sich zu sicher sein dürfen, nicht ständig und überall überwacht zu werden.
Jeder in den Augen der Geheimdienste potentiell gefährliche Gedanke - also jeder Gedanke - soll von der wirkungsvollsten Zensur überhaupt beschnitten werden: der Vorzensur im eigenen Kopf. Aus Angst, in den Fokus einer unerbittlichen Maschinerie zu geraten, die Gedanken vielleicht nicht lesen, aber doch erraten kann - oder fatalerweise glaubt, das zu können. Es handelt sich um eine strategisch gegen die Bevölkerung eingesetzte Einschüchterungsstrategie, die den vorauseilenden Angstgehorsam ausnutzt: Sich gar nicht erst zu trauen, vermeintlich Kritisches auch nur zu denken. Und schon gar nicht darüber zu sprechen, wie privat der Rahmen auch sein mag.
Erklärtes Ziel: Alles speichern
Die Angst vor diesem Apparat ist berechtigt. Denn er hat die Macht, Kameras in Laptops per Fernzugriff anzuschalten. Er kann in weltweiter Zusammenarbeit mit vielen - auch deutschen - Geheimdiensten jedes Handy in eine Wanze verwandeln. Er hat die weltweite Vorratsdatenspeicherung ohnehin längst eingeführt. Warum so zögerlich und nicht gleich jedes Handy heimlich alles aufzeichnen lassen, mit dem Argument, dass es schon nicht missbraucht würde? Das ist keine Scherzfrage mehr, so absurd es sich anhören mag. Sondern erklärtes Ziel der Überwachungsmaschinerie: Alles speichern. Alles. Und obwohl dieses Ziel von NSA-Chef Alexander bekannt ist, ist den meisten Leuten nicht klar, um was für ein faschistoid weitreichendes "alles" es sich handelt.
Geheimdienste haben den Pornografiekonsum überwacht von Leuten, die sie als Extremisten einstufen. Das ist keine Ermittlung zu möglichen Straftaten, das ist die Vorbereitung staatlicher Erpressung. Das Argument, es handele sich ja bloß um Extremisten, zeugt nicht nur von Rechtsstaatsverachtung. Es ist auch naiv in der Annahme, die behördliche Definition von Extremismus entspräche der des Normalbürgers.
In offiziellen Unterlagen der US-Verteidigungsministeriums wurden Proteste in Form von Demonstrationen als "Low Level Terrorism" bezeichnet. Einer der selbstgerechtesten, mächtigsten und genau deshalb gefährlichsten Männer Europas, der englische Premier David Cameron, versucht ohne auch nur den Anflug eines restdemokratischen Schamgefühls, Journalisten als Terroristen zu brandmarken, weil sie ihrer Arbeit der Machtkontrolle nachgehen.
An der US-Grenze wurde offenbar einer querschnittgelähmten Frau die Durchreise verweigert mit der Begründung, sie würde an Depressionen leiden. Völlig abgesehen von der jede Rechtsstaatlichkeit verhöhnenden Tatsache, dass Grenzbeamte Zugriff auf medizinische Akten haben - in welcher verdammten Welt sind Journalisten Terroristen, in welcher verdammten Welt fühlt sich ein supergroßmächtiger Staat bedroht durch eine durchreisende, depressive Frau im Rollstuhl?
Symptom eines politischen Wahnsystems
Die grausige Antwort: nur in einer Wahnwelt. Der Spähskandal ist das Symptom eines politischen Wahnsystems. Demokratien weltweit sind vergiftet von einer - man muss sie so nennen! - amtlichen Wahnvorstellung, in der jede Person eine potentielle Bedrohung ist. Und deshalb überwacht werden muss: Alle stehen immer unter Verdacht. Eine Wahnwelt, in der Demokratien nicht zu demokratisch werden dürfen - weil Transparenz und Kontrolle des Spähapparates als Machtbeschränkung gesehen werden. Das ist der Schlüssel zum Verständnis des Spähskandals.
Und das fortgesetzte Schweigen der Bundesregierung macht sie mitschuldig, völlig egal, was hinter den Kulissen geschehen oder nicht geschehen mag. Nie war Angela Merkels Schweigen fataler als jetzt. Das derzeitige Späh-Armageddon, verursacht durch ein Wahnsystem, resultiert in der totalen Pervertierung des Gedanken, Demokratie und Grundrechte zu schützen, bis zur Verkehrung ins genaue Gegenteil. "Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei", so steht es im Aufruf der 560 Autoren, und es ist als Warnung gemeint.
Aber vielleicht ist exakt das das Ziel. Denn "Sie hassen unsere Freiheit", dieser Satz trifft zwölf Jahre nach 9/11 auf niemanden mehr zu als auf die weltweite Überwachungsmaschinerie.
Der Spähskandal ist das Symptom einer politischen Wahnvorstellung, in der wirklich jede Person eine potentielle Bedrohung darstellt.
http://www.spiegel.de/netzwelt/web/sascha-lobo-zum-spaehskandal-geheimdienste-hassen-unsere-freiheit-a-938183.html