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Starke Frauen
#9
Ihre Stellung als einziges Mädchen unter so vielen Brüdern brachte
Aurelia viele Vorteile: sie wurde umhegt und verwöhnt und hätte sich mit
Leichtigkeit zu einer verzogenen jungen Dame entwickeln können, wäre die
Anlage dazu vorhanden gewesen. In ihrer Familie herrschte jedoch
übereinstimmend die Meinung, daß es unmöglich war, Aurelia zu verziehen,
denn es gab keinen Funken Habgier oder Neid in ihrem Charakter.

Das bedeutete allerdings nicht, daß sie besonders liebenswürdig oder
umgänglich war, im Gegenteil, es war viel einfacher, sie zu schätzen und
zu respektieren, als sie zu lieben. Als Kind hatte sie den Angebereien
ihrer Brüder so lange unbewegt zugehört, bis sie genug hatte. Dann hatte
sie dem Aufschneider eine Ohrfeige versetzt, die ihm die Ohren klingen
ließ, und war wortlos davongezogen.

Was würde Cornelia, die Mutter der Gracchen tun? Dieses Mal fand Aurelia
keine befriedigende Antwort auf ihre Frage, weder Logik noch Instinkt
halfen ihr, ihr eigenes Dilemma auf das Leben einer Frau zu übertragen,
deren Eltern ihr nie und nimmer erlaubt hätten, den Gatten selbst
auszuwählen.

Natürlich konnte sie verstehen, warum ihr Onkel diese
Lösung vorgeschlagen hatte. Ihre klassische Bildung war breit genug, daß
sie die Parallele zu Helena von Troja erkannte, auch wenn sie sich
selbst nicht für unwiderstehlich schön hielt, sondern in erster Linie
für eine gute Partie. Schließlich kam sie zu dem Schluß, den Cornelia,
die Mutter der Gracchen, gutgeheißen hätte. Sie würde ihre Bewerber mit
größter Gewissenhaftigkeit prüfen und den besten auswählen.

Das bedeutet nicht, daß sie sich am meisten zu diesem Mann hingezogen fühlen mußte,
sondern daß er dem römischen Ideal am nächsten kommen mußte. Er mußte
also aus einer guten Familie stammen, die zumindest Senatoren unter
ihren Mitgliedern hatte und die ihre dignitas, ihr öffentliches Ansehen,
ihren Rang von der Gründung der Republik an durch Generationen hindurch
makellos und unbefleckt bewahrt hatte.

Er mußte mutig sein, beherrscht, keinesfalls geldgierig oder bestechlich,
moralisch unanfechtbar, und er mußte bereit sein, wenn nötig sein Leben für Rom
und seine Ehre zu opfern. Hohe Erwartungen!

Und wie konnte ein Mädchen, das so behütet lebte wie
sie, sicher sein, daß es richtig urteilte? Sie beschloß, mit den drei
Erwachsenen ihrer Familie, mit Marcus Cotta, Rutilia und ihrem älteren
Halbbruder Lucius, zu sprechen und sie um ihre offene Meinung zu jedem
der Männer auf der Liste ihrer Freier zu bitten.

Die drei waren zwar etwas erstaunt, doch sie versuchten, Aurelia zu helfen, so gut sie
konnten. Unglücklicherweise mußte jeder von ihnen bei näherem Nachfragen
zugeben, daß persönliche Sympathien oder Abneigungen sein Urteil
beeinflußten. So war Aurelia wieder da, wo sie angefangen hatte.

Keiner gefällt ihr wirklich, sagte Cotta bekümmert zu seiner Frau.
Nicht einer!, seufzte Rutilia.

Es ist unglaublich, Rutilia! Ein achtzehnjähriges Mädchen, das sich zu
keinem Mann auch nur ein wenig hingezogen fühlt! Was ist los mit ihr?


Woher soll ich das wissen? Sie hat das bestimmt nicht von meiner Seite
der Familie!


Nun, von mir hat sie es mit Sicherheit auch nicht! schnappte Cotta.
Dann riß er sich zusammen, gab seiner Frau einen Kuß und verfiel wieder
in dumpfes Grübeln.
Wir sollten sie zu meinem Bruder schicken, sagte Rutilia. Er wird mit
ihr reden.

Eine ausgezeichnete Idee! meinte Cotta erleichtert.

Und so machte sich Aurelia am nächsten Tag in Begleitung ihrer Dienerin
Cardixa und zweier kräftiger gallischer Sklaven auf den Weg von der
Villa Cottas auf dem Palatin zu Publius Rutilius Rufus Haus in der
Carinae. Cotta und Rutilia wollten Aurelias Gespräch mit ihrem Onkel
nicht durch ihre Anwesenheit stören, und so blieben sie zu Hause.

Publius Rutilius Rufus war als Konsul von Rom ein vielbeschäftigter
Mann. Vor allem seit er die gesamten Verwaltungsaufgaben übernommen
hatte, um seinen Mitkonsul Gnaeus Mallius Maximus zu entlasten, während
dieser die riesige Armee zusammenstellte, die er gegen Ende des
Frühlings nach Gallia Transalpina führen wollte. Aber für
Familienangelegenheiten hatte Rutilius Rufus immer Zeit. Marcus Cotta
hatte ihn kurz vor Einbruch der Dämmerung aufgesucht und ihm die
Situtation geschildert.

Rutilius Rufus war amüsiert. Oh, diese Kleine! rief er aus, und seine
Schultern bebten vor Lachen. Eine Jungfrau durch und durch. Nun, wir
müssen dafür sorgen, daß sie nicht die falsche Entscheidung trifft und
als alte Jungfer endet, trotz der vielen Bewerber.


Ich hoffe, du hast eine Idee, Publius Rutilius, denn ich bin mit meiner
Weisheit am Ende.


Ich denke, ich weiß, was zu tun ist, meinte Rutilius Rufus verschmitzt.
Schicke sie kurz vor der zehnten Stunde hierher. Wir werden zusammen zu
Abend essen. Ich werde sie in einer Sänfte und gut bewacht nach Hause
bringen lassen, mach Dir also keine Sorgen.


Als Aurelia ankam, führte Rutlius Rufus sie in sein Eßzimmer und deutete
auf einen Stuhl, von dem aus sie es sich bequem mit ihrem Onkel – der
nach römischer Sitte im liegen essen würde – und dessen Gast unterhalten
konnte. Cardixa und die gallischen Sklaven wurden in die Räume der
Dienerschaft geschickt, um dort zu essen und bei Bedarf aufzuwarten.

Ich erwarte nur einen Gast, sagte Rutilius Rufus, während er es sich
auf seiner Liege bequem machte. Brrr! Kalt, findest du nicht? Möchtest
Du nicht ein paar warme Socken, Nichte?


Jede andere Achtzehnjährige wäre lieber erforen, als etwas so wenig
Kleidsames anzuziehen wie ein Paar dicke Wollsocken. Nicht jedoch
Aurelia, die die Temperatur des Raumes gegen ihr körperliches
Wohlbehagen abwog und dann bejahend nickte.
Ich danke dir, Onkel Publius, sagte sie.

Cardixa wurde hereingerufen und gebeten, sich von der Haushälterin ein
Paar warme Socken geben zu lassen, was sie mit bemerkenswerter
Geschwindigkeit erledigte.

Während die Mädchen ganz mit den Socken beschäftigt waren, wurde der
erwartete Gast hereingeführt. Sie schauten beide nicht auf, als Rutilius
Rufus ihn begrüßte und ihn bat, es sich auf der Liege zu seiner Linken
bequem zu machen.

Als Aurelia sich dann wieder aufrichtete, sah sie Cardixa in die Augen
uns schenkte ihr eines ihrer seltenen Lächeln. Es lag immer noch auf
ihren Lippen, ebenso wie eine leichte Röte auf ihren Wangen, die von der
gebückten Haltung herrührte, als sie sich vollständig aufsetzte und über
den Tisch hinweg den Gast anblickte. Sie sah atemberaubend aus.

Der Gast zog hörbar den Atem ein. Ebenso Aurelia.

Gaius Julius, das ist die Tochter meiner Schwester, Aurelia, sagte
Publius Rutilius Rufus liebenswürdig. Aurelia, ich möchte dich dem Sohn
meines alten Freundes Gaius Julius Cäsar vorstellen. Er heißt Gaius wie
sein Vater, ist aber nicht der älteste Sohn.


Ihre veilchenblauen Augen wirkten noch größer als sonst. Aurelia sah in
das Gesicht, das ihr Schicksal bestimmen sollte, und dachte weder an
römische Ideale noch an Cornelia, die Mutter der Gracchen. Oder
vielleicht tat sie es auf einer anderen, tieferen Ebene, denn Gaius
Julius Cäsar sollte sich als ein Mann erweisen, der ihren Idealen
standhielt. Dies würde jedoch erst die Zeit zeigen, und im Augenblick
war sie von dem länglichen Gesicht mit der römischen Nase, den
tiefblauen Augen, dem dichten, welligen, goldenen Haar und dem schönen
Mund vollständig in Bann geschlagen.

Nach all ihren inneren Kämpfen, all den sorgfältigen und doch fruchtlosen Erwägungen löste sich ihr Problem auf die natürlichste und einfachste Art der Welt – sie verliebte sich.

...
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[Kein Betreff] - von Inara - 17.03.12006, 12:43
RE: Starke Frauen - von Paganlord - 23.11.12011, 00:09
RE: Starke Frauen - von Hælvard - 04.12.12011, 13:24
RE: Starke Frauen - von Hælvard - 25.06.12017, 18:04
[Kein Betreff] - von Saxorior - 17.03.12006, 18:22
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Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 18.04.12010, 20:05
Re: Starke Frauen - von Hælvard - 21.04.12010, 12:29
Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 21.04.12010, 19:57
Re: Starke Frauen - von Rahanas - 09.05.12010, 17:31
Re: Starke Frauen - von Hernes_Son - 19.05.12010, 00:52
Re: Starke Frauen - von Maurynna - 21.08.12010, 23:07
Re: Starke Frauen - von Wishmaster - 22.08.12010, 01:17
Re: Starke Frauen - von Maurynna - 22.08.12010, 09:48

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